Für Minderheitenschutz in der EU-Grundrechtecharta
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Diskriminierungsverbot  |  Schutz sprachlicher und ethnischer Minderheiten  |  Vertreibungsverbot  |  Appell der GfbV International  |  Dossier
Bozen, 21.4.2000

Noch in diesem Jahr soll eine EU-Charta der Grundrechte erarbeitet werden. Der „Konvent“, ein Gremium unter Leitung des ehemaligen Deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog, hat schon die ersten Entwürfe vorgelegt. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) International verfolgt diesen Prozess mit kritischem Wohlwollen: Einerseits begrüßen wir es, dass der wachsenden Macht der EU-Institutionen endlich Rechte ihrer Bewohner gegenübergestellt werden. Andererseits gilt es sicherzustellen, dass die Grundrechtecharta (GRC) vollständig und verbindlich ist.

Die GfbV-international  verlangt, dass die GRC individuell einklagbare Rechte enthält, die nicht nur für die Unionsbürger, sondern für alle Menschen in der EU gelten. Sie soll jede staatliche Gewalt im EU-Bereich binden. Eine lückenhafte und schwache Charta wäre ein gefährlicher Rückschritt gegenüber der Tradition der Menschenrechte und der demokratischen Verfassungen. Unter anderem fordert die GfbV, dass die GRC Artikel zu folgenden Themen enthält:

Darüberhinaus setzt sich die GfbV für die eu-weite Absicherung des Grundrechtes auf Asyl für politisch Verfolgte und Opfer von grausamer und unmenschlicher Behandlung sowie für die Aufnahme der wichtigsten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte in die GRC ein. Dies entspricht auch der gemeinsamen Position der im „Forums Menschenrechte“ zusammengeschlossenen 40 deutschen Nichtregierungsorganisationen.

Auf einer öffentlichen Anhörung durch die Europaausschüsse von Deutschem Bundestag und Bundesrat am 5. April 2000 in Berlin hatte die GfbV bereits Gelegenheit, ihre Position schriftlich und mündlich vorzutragen. Am 27. April 2000 werden wir auch an der Anhörung der europäischen Nichtregierungsorganisationen durch den Konvent teilnehmen. Aus diesem Anlass werden wir ein Memorandum vorlegen, das unsere Argumente vertieft.

Für die Unterstützung unserer Forderungen wollen wir ein Aktionsbündnis von Organisationen und Institutionen von bzw. für Minderheiten zusammenschmieden. Es ist zu erwarten, dass Staaten wie Frankreich und Griechenland erheblichen Widerstand gegen Bestimmungen zum Minderheitenschutz leisten werden.

Am 31. Mai 2000 wird in Berlin, organisiert von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Forum Menschenrechte und unserer Partnerorganisation FIAN, ein Symposium über die GRC stattfinden, an dem die GfbV ebenfalls teilnehmen wird.

Über den Stand der Diskussion um die Grundrechtecharta informiert die Homepage der EU: http://ue.eu.int/

Diskriminierungsverbot
Selbst in den stabilen westeuropäischen Demokratien werden Menschen wegen ihrer Hautfarbe, Kultur, Herkunft, Religion usw. diskriminiert. Zwar ist es bereits ausgemacht, dass die GRC ein Verbot von Diskriminierung enthalten wird, doch müssen wir unbedingt sicherstellen, dass dieses nicht nur für die Bürger der Union, sondern für Drittstaatenangehörige, d.h. für alle Menschen gilt, die hier leben.

Wie z.B. aus der Diskussion um die Gleichstellung von Mann und Frau bekannt ist, ist die faktische Benachteiligung ganzer Gruppen oft nur schwer auszu-merzen. Deshalb fordern wir, dass der Artikel zum Diskriminierungsverbot um folgenden Absatz ergänzt wird, der eine „affirmative action“ ermöglichen soll:

„Angehörige von Gruppen, die faktisch benachteiligt werden, sollen besonders gefördert werden.“ Die GfbV setzt sich dafür ein, dass z.B. auch die Bildungsinstitutionen von alteingessenen sprachlichen und ethnischen Minderheiten durch Brüssel bzw. unter dem rechtlichen Schirm Brüssels besonders gefördert werden.


Schutz sprachlicher und ethnischer Minderheiten
Die GfbV setzt sich für einen Artikel zum Schutz aller sprachlichen und ethnischen Minderheiten in Europa im Rahmen der GRC ein, der z.B. an Artikel 27 des Internationalen Paktes über die bürgerlichen und politischen Rechte angelehnt ist:

Art. X Minderheitenschutz:
Angehörige von sprachlichen oder ethnischen Minderheiten haben das Recht, gemeinsam und öffentlich ihre eigene Sprache zu gebrauchen und ihre eigene Kultur zu pflegen.
Wir haben in dieser Formulierung die religiösen Minderheiten weggelassen, weil es als sicher gilt, dass die Glaubensfreiheit in einem eigenen Artikel der GRC gesichert wird.

Vertreibungsverbot
Angesichts des Völkermordes an den bosnischen Muslimen (1992-95) und der anhaltenden Massenvertreibungen im Kosovo – erst der Albaner und heute der Serben sowie der Roma, Aschkali und Kosovo-Ägypter – ist von der EU zu fordern, dass sie solche und andere schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern trachtet. Ob die GRC auch solche „politischen Handlungsziele“ enthalten soll, die juristisch nicht verbindlich sind, ist umstritten. Für den Fall, dass es dazu kommt, hat die GfbV in ihrem Beitrag zur Anhörung durch die Europaausschüsse von Deutschem Bundestag und Bundesrat bereits folgende Formulierung vorgeschlagen:

„Die EU setzt sich für die Verhütung bzw. Beendigung und Strafverfolgung von Angriffskrieg, Völker- und Sozialschichtenmord, Massenvertreibung und anderen schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein.“
Was das Verbrechen der Vertreibung angeht, so gibt es im Völkerrecht bereits Vorlagen für eine Formulierung eines Abwehrrechtes, das Individuen und Gruppen gleichermassen begünstigt. Die GfbV schlägt diesen Text vor, der das Recht auf Heimat und das Recht auf sichere Rückkehr umfasst:
Artikel Y: Vertreibungsverbot:
Jede Person hat das Recht, in Frieden, Sicherheit und Würde in ihrer Wohnstätte, ihrem Heimatgebiet und in ihrem Land zu bleiben oder dorthin zurückzukehren.
Weitere Informationen sind erhältlich über: Andreas Selmeci, GfbV-Deutschland - pogrom@gfbv.de und GfbV-Südtirol - info@gfbv.it

Appell der GfbV International

Für einen wirksamen Minderheitenschutz in der künftigen Grundrechtecharta der EU

Wir, die unterzeichnenden Institutionen und Persönlichkeiten, begrüßen die Entstehung einer Grundrechtecharta (GRC) der Europäischen Union (EU). Es ist an der Zeit, dass der wachsenden Macht der EU-Institutionen verbindliche, individuell einklagbare Rechte der in Europa lebenden Menschen gegenübergestellt werden. Mit großer Sorge nehmen wir jedoch zur Kenntnis, dass in den bisher bekannt gewordenen Entwürfe des Grundrechte-Konvents kein hinreichender Schutz der sprachlichen, ethnischen und religiösen Minderheiten in Europa vorgesehen ist. Deshalb schließen wir uns hiermit der Initiative der Gesellschaft fur bedrohte Völker (GfbV) International für einen wirksamen Minderheitenschutz in der GRC an.

Minderheiten sind Bestandteil einer jeden Gesellschaft. Sie tragen zu deren innerer Vielfalt bei. Deshalb haben Sie Anspruch auf Anerkennung und Schutz. Doch immer wieder wurden Minderheiten in Europa zu Opfern von Verfolgungen, die in den Völkermord- und Vertreibungsverbrechen totalitärer Diktaturen gipfelten. Bis heute setzen sich diese Verbrechen auf dem Balkan fort. Selbst in den stabilen westeuropäischen Demokratien werden Menschen wegen ihrer Hautfarbe, Sprache, Kultur oder Religion diskriminiert.

Zu den Opfern von Geringschätzung zählen auch die Angehörigen alteingessener Sprachgemeinschaften und Volksgruppen. Als Bürger ihrer Staaten und der EU Folge werden ihnen die Mittel für ihre Bildungsinstitutionen vorenthalten. Die Folge davon ist fortschreitende kulturelle Verarmung: Wie die 1996 von der EU-Kommission veröffentlichte Studie "euromosaic" belegt, sind die Hälfte von 46 europäischen Minderheitensprachen 23 nur noch "bedingt" oder gar nicht mehr lebensfähig.

Nach Auffassung namhafter Völkerrechtler konnen sprachliche, ethnische, religiöse und ähnliche große Gemeinschaften nur durch die Gewährung von kollektiven Rechten wirksam geschützt werden. Nun ist aber bereits entschieden, dass die GRC in der Tradition der weltweit geltenden Menschenrechtsdokumente, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Verfassungen westlicher Demokratien Individualrechte enthalten wird. Umso dringender scheint es uns, einen Artikel in die GRC einzuführen, der ein minimales Recht für die Angehörigen von sprachlichen, ethnischen und religiösen Minderheiten garantiert. Im Anschluss an Artikel 27 des Internationalen Paktes über Politische und Bürgerliche Rechte von 1966 schlagen wir die folgende Formulierung vor: Artikel X Minderheitenschutz: Angehörige sprachlicher, ethnischer oder religiöser Minderheiten haben das Recht, gemeinsam und öffentlich mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihre eigene Sprache zu gebrauchen, ihre eigene Kultur zu pflegen und ihre eigene Religion auszuüben.

Für den Schutz von Minderheiten unerlässlich ist zudem das Verbot jeglicher Diskriminierung aufgrund von Rasse, Abstammung, Nationalität, Sprache, Geschlecht, sexueller Orientierung, Religion, Weltanschauung oder politischer Überzeugung. Zwar ist es fast gewiss, dass die GRC einen entsprechenden Artikel enthalten wird, doch muss verlangt werden, dass das Diskriminierungsverbot nicht nur für Unionsbürger, sondern ausdrücklich für alle Menschen im EU-Bereich gilt. Wie etwa aus der Diskussionen um die Gleichstellung von Mann und Frau bekannt ist, lasst sich die faktische Benachteiligung ganzer Gruppen oft nur schwer korrigieren. Um für diese Gruppen die Chancengleichheit zu verwirklichen, bedarf es einer "affirmative action" nach erfolgreichem amerikanischen Vorbild. Wir schlagen vor, dass das Diskriminierungsverbot um folgenden Absatz ergänzt wird: Angehörige von Gruppen, die faktisch benachteiligt werden, haben Anrecht auf besondere Forderung.

Noch wird kontrovers diskutiert, ob neben den Individualrechten auch politische Handlungsaufträge in die GRC aufgenommen werden sollen. Gleichwohl schlagen wir zugunsten der in Europa alteingesessenen sprachlichen und ethnischen Minderheiten den folgenden Text vor:

Die EU fördert die Chancengleichheit der Angehörigen sprachlicher und ethnischer Minderheiten und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. Sie fördert europäische Minderheitensprachen und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Minderheiten-Regionen.
Des Weiteren rufen wir dazu auf, dass die EU mit der Verabschiedung der GRC auch ein Zeichen zur Verhütung von Völkermord, Massenvertreibung und anderen schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit setzt. Zusätzlich zu einem entsprechenden politischen Handlungsziel, fordern wir einen individuellen Schutz vor Vertreibung:
Artikel Y: Vertreibungsverbot Jede Person hat das Recht, in ihrem Land und in ihrer Heimat zu bleiben oder jederzeit dorthin zurückzukehren.
Jeder willkürliche Entzug dieses Rechtes ist unzulässig. Diese Formulierung enthält nicht nur ein Recht auf sichere Rückkehr als Teil der Bewegungsfreiheit, wie es z.B. in Artikel 12, Absatz 4 des Internationalen Paktes über Bürgerliche und Politische Rechte anerkannt wurde, sondern auch ein Recht auf Heimat. Letzteres hat u.a. in den Entwurf einer Erklärung über Bevölkerungstransfers und die Sesshaftmachung von Siedlern Eingang gefunden, der von der UN-Menschenrechtskommission am 17. April 1998 einstimmig angenommen wurde.

Abschließend warnen wir vor jedem Versuch, den Geltungsbereich der Grundrechte einzuschränken oder die Charta zu einer unverbindlichen Erklärung zu degradieren. Dadurch wurde nicht nur die Idee einer europäischen "Bill of Rights" zerstört, vielmehr erlitte auch die internationale Entwicklung der Menschenrechte einen schweren Rückschlag. In der Schlußerklärung des Europäischen Rates von Kopenhagen 1993 hatten die damaligen EG-Mitglieder ihre Bereitschaft zur Aufnahme neuer Staaten von der Einführung einer Minderheitenschutzbestimmung in deren Verfassungen abhängig gemacht.

Damit wird die Aufnahme eines solchen Rechtes in die GRC auch zu einer Frage der Glaubwürdigkeit.

Siehe auch unser Dossier: Für eine pluralistische Union. Minderheitenrechte gehören in die EU-Grundrechtecharta
 

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