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Tschetschenien

Verbranntes, geplündertes Land

Interview mit Sergej Adamowitsch Kowaljow, ehemaliger Dissident, Abgeordneter der russischen Duma, Menschenrechtler am 1. November 2002

Kowaljow: Wir müssen unterscheiden zwischen den Gründen, die zum Ausbruch des zweiten Krieges geführt haben und den Gründen dafür, dass der Krieg bis heute andauert. Es gab nach offizieller russischer Aussage drei Gründe für den Einmarsch der russischen Truppen in Tschetschenien im Herbst 1999:
1. Der Menschenhandel in Tschetschenien,
2. Der Überfall des tschetschenischen Feldkommandeurs Schamil Basajew auf Dörfer in Dagestan,
3. Bombenanschläge auf russische Wohnhäuser in Moskau und Wolgograd.

Leider ist es so, dass der russische Geheimdienst den Menschenhandel in Tschetschenien immer wieder hätte unterbinden können, dies aber nicht getan hat. So war weit bekannt, dass der Onkel des Geiselnehmers von Moskau, Arbi Barajew, massiv in den Menschenhandel verstrickt war und die brutalsten Methoden einsetze, um Lösegeld zu erpressen. Arbi Barajew wohnte in Jermolovka. Bei "Säuberungen" des Ortes wurde sein Haus nie betreten. Ich selbst fragte beim zuständigen Militär nach, weshalb Barajew noch nicht festgenommen worden sei. Der Mann antwortete, erst wenn wir von oben den Befehl bekommen, nehmen wir ihn fest. Sehr viele Fragen bleiben auch im Hinblick auf Basajews Überfall in Dagestan offen. So habe ich mich immer gewundert, wie Basajew ungehindert auf einer gut ausgebauten Straße, die von russischen Truppen bewacht war, nach Dagestan eindringen konnte. Es ist bis heute noch nicht bewiesen, dass Tschetschenen die Bomben in russischen Wohnhäusern gelegt haben, vielmehr gibt es auch hier Hinweise auf die Einmischung des russischen Geheimdienstes. Nein, der Grund für den Krieg war, Putin auf den Präsidentensessel zu heben und dieses Ziel wurde auch erreicht.

Heute dauert der Krieg an, weil zu viele Seiten ein Interesse an seiner Fortführung haben. In Tschetschenien wird mit allem Handel getrieben, das tschetschenische Öl wird auf den Märkten in ganz Südrussland von russischen Soldaten verkauft. Die Armee plündert das Land aus. Die Menschen müssen für die Herausgabe ihrer ermordeten Verwandten zahlen und Gefangene freikaufen. Die russische Generalität hat ein großes Interesse daran, dass der Krieg weitergeht. Ein Ereignis wie der Frieden, der den ersten Krieg beendet hat, soll es aus ihrer Sicht nicht noch einmal geben.

Kowaljow: Hoffen Sie nicht zu sehr auf die Abgeordneten der Duma! Heute sagen sie das eine, morgen etwas anderes. Das Vorgehen bei der Geiselnahme hat jedoch aller Welt vor Augen geführt, dass der Kreml keinerlei Interesse oder politischen Willen hat, mit der tschetschenischen Seite zu verhandeln.

Kowaljow: Ich muss leider sagen, ich erwarte ganz und gar nichts Gutes von dieser Regierung. Die Erfahrung zeigt, dass man auch nichts zu erwarten hat. Das trifft auf alle deutschen Regierungen zu, sowohl auf die Regierung Kohl als auch auf die rot-grüne Regierung jetzt. Ich möchte daran erinnern, dass es 1994 - 1996 in der westlichen Welt zwei Menschen gab, die den Krieg nicht innerhalb von zwei Jahren, sondern innerhalb von vielleicht zwei Monaten hätten beenden können. Das waren Helmuth Kohl und Bill Clinton. Dafür hätten sie nicht Moskau bombardieren oder Russland mit einer Wirtschaftsblockade belegen müssen, es hätte ausgereicht, wenn die beiden Politiker bei jedem öffentlichen Auftritt den Krieg in Tschetschenien und die Verbrechen der russischen Armee deutlich kritisiert hätten. Sie haben das nicht getan und ich kann auch verstehen weshalb nicht: Im Westen hat man sich daran gewöhnt, mit russischen Politikern Freundschaften zu schließen: Gorbatschow, Jelzin, Putin. So wurde Jelzin als Garant für die demokratische Entwicklung gesehen - was bedeutet schon Tschetschenien, Hauptsache, Jelzin bleibt Präsident.

Jeder Mensch hat natürlich die Möglichkeit zu wählen, und wer bin ich, dass ich diesen Männern eine Wahl vorschlage. Aber sie haben nicht nur für sich entschieden, sie haben sich für den Tod von Zehntausenden Tschetschenen entschieden. Ich muss sagen, dass die rot-grüne Koalition sich keinen Deut besser verhält. Joschka Fischer kenne ich schon lange, aus einer Zeit, als die Grünen noch nicht an der Macht waren und er immer so offen und laut aufgetreten ist. Schauen sie sich seine Position heute an. Alle stellen sie sich heute in die Schlange derer, die die Hände des KGB Offiziers Wladimir Putin schütteln wollen. Führen wir einmal ein Gedankenspiel aus: Stellen sie sich vor, in Deutschland würde ein ehemaliger Gestapo oder SS Mann zum Bundeskanzler gewählt. Und dann stellen sie sich vor, wie ein Journalist diesem neuen Kanzler die Frage stellt: "wie stehen sie zu ihrer Vergangenheit?" - und die Antwort wäre, "ich bin stolz auf meine Vergangenheit". Das nenne ich westliche Doppelmoral. Der Westen muss endlich verstehen, welchen starken Einfluss die Entwicklung innerhalb Russlands auf die gesamte Entwicklung hat.

Kowaljow: Diese Schwelle ist schon längst überschritten. Nennen sie den Staat wie sie es wollen, die russische Regierung hat einen besonderen Namen für diese Form gefunden: gelenkte Demokratie. Das bedeutet, dass das Parlament mit der Regierung gleichgeschaltet ist, dass wir keine unabhängige Justiz haben und die Presse mehr und mehr mundtot gemacht wird. Jetzt gibt es Überlegungen, die Armee zu polizeilichen Maßnahmen innerhalb Russlands einzusetzen. Dies verstößt klar gegen die Verfassung - nicht der Missstand soll nun geändert werden, sondern die Verfassung.

Kowaljow: Diese Diskreditierung der gemäßigten Tschetschenen begann schon 1997. Maschadow wurde für Moskau nicht deshalb gefährlich, weil er aggressiv war, sondern weil er ein ruhiger, kluger Mensch ist, mit dem es eine echte Chance für Verhandlungen gegeben hätte. Nun spielt sich Russland in einer unverschämten Art und Weise auf und erpresst mehrere Staaten. Wer ist Putin, dass er Dänemark erpressen kann? Was würde es denn ausmachen, wenn Putin nicht zum Gipfeltreffen nach Brüssel am 11./12. November käme? Denken Sie an Milosevic. Russland hat lange versucht, seine Hand über den slawischen Bruder zu halten aber der Westen hat nicht auf Russland gehört. Wie gut wäre es, wenn der Westen viel weniger auf Russland Rücksicht nehmen würde!

Was Verhandlungen anbelangt, fordere ich schon lange die Internationalisierung des Konfliktes. Das heißt europäische Politiker müssen sich engagieren. Verhandlungen, der Rückzug der Armee und die Entwaffnung der Kämpfer müssen unter Beobachtung durch die OSZE und die Vereinten Nationen erfolgen. Nur so kann überhaupt noch eine Perspektive für Tschetschenien entwickelt werden. Auch nach dem Abzug der Truppen, müssen ausländische Beobachter sehr präsent sein, um eine Entwicklung wie zwischen 1996 und 1999 zu verhindern.

Kowaljow: Trotz allem leben wir nicht mehr in der Sowjetunion. Ich kann hier zu ihnen kommen und ihnen so offen und hart alles sagen. Ich werde sicher wieder nach Hause kommen und man wird mich nicht mehr einsperren. Vielleicht bringt man mich irgendwann um aber einsperren wird man mich nicht. Außerdem gibt es Ansätze für eine Zivilgesellschaft. Denken Sie nur an unsere Organisation Memorial. So etwas wäre unter der Sowjetunion unmöglich gewesen.

Aus bedrohte Völker-pogrom 216 (6/2002)


Siehe auch:
* www.gfbv.it: | www.gfbv.it/3dossier/cecenia/cecen-224.htmlwww.gfbv.it/2c-stampa/03-2/031117ade.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/031022de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/031002de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030930de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030918de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030708de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030703de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030630de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030619de.html | www.gfbv.it/3dossier/cecenia/indexcec-dt.html

* www: www.iccnow.org | www.unhcr.ch | www.unhchr.ch | www.unhchr.ch/tbs/doc.nsf/(Symbol)/CCPR.C.RUS.2002.5.En?OpenDocument | www.chechnya-mfa.info | www.memo.ru | www.gfbv.ch/pdf/02-03-043.pdf | www.perlentaucher.de/artikel/1868.html

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