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Tschetschenien

Vergessene Hölle

Aus bedrohte Völker-pogrom 224 (2/2004)

Bozen, Göttingen, Mai 2004

AUSZÜGE
>> Vergessene Hölle Tschetschenien, von Sarah Reinke
>> Pax russa - Der Frieden der Friedhöfe. Tschetschenische Friedenspläne stoßen auf taube Ohren, von Ekkehard Maaß
>> Ein Tag in Tschetschenien, von Barbara Gladysch
>> Tschetschenische Flüchtlinge in Deutschland - Fehlende Perspektive, fehlendes Verständnis, von Sarah Reinke
>> Mit der Stimme des Täters, von Mateo Taibon
>> Die tschetschenische Menschenrechtlerin Lipkan Basajewa hilft vergewaltigten Frauen, von Andrea Strunk

Vergessene Hölle Tschetschenien .: oben :.

Von Sarah Reinke

Grosny. Foto: GfbV-ArchivBei den russischen Präsidentschaftswahlen am 14. März 2004 stimmten 93% der Tschetschenen für Wladimir Putin. Eine höhere Prozentzahl erschwindelten die Manipulatoren in keiner anderen Provinz der Russischen Föderation. Der pro-russische Präsident Tschetscheniens, Achmad Kadyrow, stimmte sogleich mit dem Vorschlag, Putin zum Präsidenten auf Lebenszeit zu küren, in den Jubel mit ein. Die OSZE und Wahlbeobachter des Europarates kritisierten die Wahlen erwartungsgemäß als undemokratisch und manipuliert. Mit politischen Konsequenzen aus dem Ausland, die zu einer Veränderung in Tschetschenien führen würden, rechnet jedoch niemand mehr.

In Tschetschenien werden drei Konflikte ausgetragen. Im ersten operiert die russische Armee gegen tschetschenische Widerstandskämpfer, die für einen unabhängigen Staat eintreten. Im zweiten stehen sich russische Streitkräfte und eine wachsende Zahl radikalisierter und islamistischer Kämpfer gegenüber, die auch bereit sind, den Kampf in Form von Terroranschlägen nach Zentralrussland zu tragen. Im dritten und grausamsten Konflikt führen die schätzungsweise 80.000 russischen Soldaten, Polizisten und Geheimdienstmitarbeiter eine brutale Gewaltkampagne gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung durch. Diese Kampagne begann im Herbst 1999 mit der beispiellosen Bombardierung Tschetscheniens, der vollkommenen Zerstörung der Hauptstadt Grosny und den Angriffen auf zivile Ziele wie Flüchtlingstrecks, Schulen und Krankenhäuser. In einer zweiten Phase des Krieges setzten die (unter dem Kommando der Geheimdienste operierenden) russischen Verbände massenhaft so genannte Säuberungsaktionen ein, um die Zivilisten zu terrorisieren. Tausende junger Männer wurden verhaftet, in den berüchtigten "Filtrationslagern" festgehalten, systematisch gefoltert und ermordet.

Verantwortlich für das Verschwindenlassen sind sowohl russische Soldaten als auch Angehörige der Milizen und der Leibgarde des von Russland in einer Wahlfarce eingesetzten tschetschenischen "Präsidenten" Achmad Kadyrow. Dies verdeutlicht die so genannte Tschetschenisierung des Konfliktes, ein erklärtes Ziel der russischen Politik: Pro-russische Tschetschenen unter der Führung Kadyrows sollen die Macht in Tschetschenien übernehmen, während sich die russische Armee, die wöchentlich etwa zehn Tote zu beklagen hat, zurückzieht. Diese Politik des "Teile und Herrsche" vertieft die Spaltung der tschetschenischen Gesellschaft und die Radikalisierung von Teilen davon.

Die ersten Monate 2004

Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial dokumentierte 2003 fast 500 Fälle von Verschwindenlassen, wobei sie nur ein Viertel des tschetschenischen Territoriums in ihren Statistiken erfasst. Verantwortlich für die Verschleppungen sind Angehörige der russischen Verbände, die Milizen von Kadyrow und jene seines 27-jährigen Sohnes Ramzan. Der Fall einer Verhaftung von Mitarbeitern der Kadyrow-Leibgarde zeigt die derzeitigen Machtverhältnisse: In der Nacht vom 9. auf den 10. Februar nahmen tschetschenische Polizisten in Schali Mitarbeiter Kadyrows fest, die den Verwaltungschef der Region, Vacha Schanajew, zu kidnappen versucht hatten. Kadyrow vereitelte eine Anklage seiner Leute durch massiven Druck auf die zuständige Staatsanwaltschaft. Ein Polizist, der an der Verhaftung beteiligt gewesen war, wurde am 22. Februar von Mitarbeitern der Leibgarde des Präsidenten zusammengeschlagen.

Zu illegalen Verhaftungen und Verschleppungen kommt es vor allem nachts. Maskierte Soldaten, Angehörige des Geheimdienstes oder von Spezialeinheiten dringen in die Wohnungen der Tschetschenen ein und verschleppen insbesondere junge Männer, seit einigen Monaten aber vermehrt auch Frauen unter dem Vorwand, sie seien "Schachidinnen", also potenzielle Selbstmordattentäterinnen. Jeder militärische Kontrollpunkt verfügt über Gruben und Zellen, in denen Verschleppte festgehalten und gefoltert werden. Häufig erfährt man nicht, wo die Verschleppten festgehalten werden. Wenn es Angehörigen oder Menschenrechtsaktivisten dennoch gelingt, den Aufenthaltsort und die Verantwortlichen zu ermitteln, ist es in einigen Fällen möglich, Verhaftete wieder freizukaufen. Der Preis dafür ist in den letzten Jahren auf 1.000 bis 3.000 US-Dollar gesunken (früher waren es 5.000 bis 10.000 Dollar). Dennoch müssen die betroffenen Familien teilweise ihr Haus oder ihre Wohnung verkaufen oder aber ein ganzes Dorf muss sammeln, um die Summe aufzubringen.

Menschenrechtler in Gefahr

Grosny, zerstoerte Stadt. Foto: GfbV-ArchivFortgesetzt wurde 2004 auch die Verfolgung von Menschenrechtsaktivisten. Am 10. Januar wurde Aslan Dawletukaew, Mitarbeiter der Gesellschaft für Russisch-Tschetschenische Freundschaft, von Angehörigen einer russischen Todesschwadron ermordet. Sein Leichnam war, von Folter und Misshandlungen gezeichnet, in der Nähe der Autobahn bei Gudermes aufgefunden worden. Seine Arme und Beine waren gebrochen worden, sein Körper zeigte Wunden, die ihm durch ein scharfes Metallobjekt zugefügt worden waren. Getötet worden war er schließlich durch einen Schuss in den Hinterkopf. Dawletukaew ist nicht der erste tschetschenische Menschenrechtler, der ermordet wurde. So wurde am 1. Dezember 2002 die Menschenrechtlerin und ehemalige Bürgermeisterin der Stadt Alkan-Khala, Malika Umaschewa, von russischen Todesschwadronen hinterrücks erschossen. Am 21. Mai 2003 fiel Zura Bitieva, Menschenrechtlerin und ehemalige Gefangene des berüchtigten Tschernokosowo-Gefängnisses, mit mehreren ihrer Familienmitglieder einem Mordanschlag zum Opfer. Andere Menschenrechtler befinden sich permanent in Lebensgefahr.

Katastrophale humanitäre Lage

Laut Nachforschungen der Organisation mondiale contre la torture (OMCT) wurden in Tschetschenien 80% aller Wohnhäuser zerstört oder stark beschädigt. 20% der Dörfer wurden vollständig dem Erdboden gleichgemacht. Das Ausmaß der Zerstörung wird auch an folgenden Zahlen deutlich: von 439 noch 2001 noch erhaltenen Schulen sind 38 nach offiziellen Angaben vollkommen zerstört worden, 231 müssen neu aufgebaut werden, 50 müssen vollkommen renoviert werden und die restlichen müssen leicht renoviert werden. Von 325 Kindergärten und -krippen sind 308 wegen Zerstörung geschlossen.

Grosny, bedrohte Frau. Foto: GfbV-ArchivIn Grosny versuchen die Menschen, ihre zerbombten Behausungen so gut es geht in Stand zu setzen. Nach Angaben der tschetschenischen Menschenrechtlerin Lipkan Basajewa leben in der Stadt derzeit knapp 200.000 Personen; vor dem Krieg waren es fast doppelt so viele. Während der Teppichbombardements im Herbst und Winter 1999 und 2000 sank sie auf wenige Tausende ab. Im Straßenbild tauchen Hilfe suchende Frauen und Kinder auf, die frisches Trinkwasser an den Tanklastern holen oder auf dem Markt etwas ver- oder einkaufen. Die Statistiken belegen dieses Bild: In der Stadt leben 35% weniger Männer als Frauen; 92% von ihnen sind arbeitslos. Das krasse Ungleichgewicht erklärt sich daraus, dass viele Männer getötet wurden und die verbliebenen stärker als Frauen der Verfolgung ausgesetzt sind.

"Ihr werdet alle nach und nach an verschiedenen Krankheiten und Stress sterben, wenn das so weitergeht", sagte ein russischer Professor zu Zainap Gaschajewa, als im Februar 2004 ihre Schwester an Krebs starb. Die Menschen sterben zu früh in Tschetschenien, und es sind zu viele die sterben, zu viele, die krank sind. Die Anzahl der Tuberkuloseerkrankungen ist drei- bis viermal höher als in den anderen Staaten der Russischen Föderation: 325 von 1.000 Personen in Tschetschenien leiden an Tuberkulose (in Russland sind es schätzungsweise 134 von 100.000 Personen). Außerdem wurden mit 5.695 Personen im Jahr 2002 in Tschetschenien weltweit am meisten Menschen Opfer von Landminen. Das Land bleibt massiv vermint, immer wieder kommt es zu Verstümmelungen und zu tödlichen Unfällen.

Russlandromantik im Westen

Vier Jahre Krieg in Tschetschenien, schätzungsweise 160.000 Tote, also knapp 20% des tschetschenischen Volkes, Russland auf dem Weg zurück zum Stalinismus, dies ist die Bilanz einer gescheiterten europäischen Politik. Ist das Schweigen Europas bzw. die aktive Unterstützung russischer Aggression in Tschetschenien ein Dank für Putins Rolle im internationalen "Kampf gegen den Terrorismus", gibt es für das Verhalten wirtschaftliche, geostrategische oder historische Gründe? Putin ist als größter Gewinner aus dem 11. September 2001 hervorgegangen. Die Neu-Interpretation des Krieges im Kaukasus eröffnete Bundeskanzler Gerhard Schröder, als Putin am 25. September 2001 Berlin besuchte und Schröder dafür plädierte, den Tschetschenienkrieg "differenzierter" zu betrachten. Doch schon der Regierung unter Bundeskanzler Kohl wurde Schweigen und Mitschuld (von der SPD/Grünen-Opposition) vorgeworfen.

In einem in "Die Welt" am 10. Januar 2004 veröffentlichten Artikel warnt der französische Philosoph André Glucksmann vor einem Fortsetzen der bisherigen europäischen Politik - allein, auf ihn hört die Politik nicht, nicht der Journalismus und nicht seine intellektuellen Kollegen. Glucksmann wünscht sich, "dass die braven Leute, die Naivlinge, die Schlaumeier, die sich für schlauer als die Wirklichkeit halten, kurzum, dass alle Menschen im Westen ihren russischen Traum aufgeben. Dass sich die Menschen im Westen die Augen reiben und aufhören, sich Russland so vorzustellen, wie sie es gern hätten, ihren Utopien oder ihren Interessen entsprechend. Dass sie es endlich als das ansehen mögen, was es ist, nämlich zutiefst fragwürdig und zuweilen höchst beunruhigend. Liberale oder Globalisierungsgegner, Atlantisten oder Amerikahasser, die meisten politischen Aktivisten, Kommentatoren und Berufspolitiker, sie alle sind von Putin wie hypnotisiert. George W. Bush hat ihm tief ins Blau seiner Augen geschaut und ist darin versunken. Berlusconi spricht ihn frei von Vorwürfen wegen der Massaker, der Folter, der eingeebneten Städte in Tschetschenien - alles bloß Gerüchte, wie er schwört. Chirac nimmt den KGB-Mann in sein "Friedenslager" auf - Paris-Berlin-Moskau -, rollt den roten Teppich zu Füßen des Mörders aus und tönt dabei, dass Moskau "in der vordersten Reihe der Demokratien" galoppiere.

Glucksmann geißelt den Tausch Geschäfte gegen Menschenrechte: "Mit geschlossenen Augen überschütten die Mächtigen unserer Welt die sich im Kreml ablösenden Mannschaften mit Komplimenten und Krediten. Das neue eurasische Eldorado weckt schärfste Träume. Seit vielen Jahren schon reden sich Prodi und seine Brüsseler Kommission den Mund fusselig und werben dafür, in die sibirischen Bohrungen und Pipelines zu investieren. [...] Das offizielle Europa hält an seiner Linie fest. Was heißt da schon Menschenrechte, Meinungsfreiheit, willkürliche Ukasse [Verordnungen d. Zaren, Anm.d.R.], unvorhersehbares Machtgerangel in den Vorzimmern des Kreml.

Pessimistisches Resümee von Glucksmann: "Aus Gründen der kommerziellen Rivalität wird man sich an Unterwürfigkeit überbieten. Ein honigsüßer Chirac begleitet Putin zu seinem Flugzeug zurück, Berlusconi öffnet ihm seine Villen, Bush empfängt ihn auf seiner Ranch, Blair bei seiner Königin und Schröder an seinem Urlaubsort. Wolodja sackt ein und glaubt sich alles erlaubt. Der verträumte Westen hat ihn zum Zaren gekrönt."

Wachen wir endlich auf. Soldaten, die in Tschetschenien Zivilisten ausplündern, vergewaltigen und ermorden, werden nach ihrer Rückkehr nicht so schnell zu normalen Bürgern. Eine durch 70 Jahre Kommunismus verblödete und die folgenden Versäumnisse enttäuschte Bevölkerung watet durch lähmende Verzweiflung. Eine im Totalitarismus ausgebildete orientierungslose Elite droht in einen schranken- und tabulosen Nihilismus abzudriften. Aus der Sowjetherrschaft führen zwei Wege: der von Havel und der von Milosevic.

"Jedes Mal, wenn der Westen kopflos auf das russische Wunder gesetzt hat, ist er gestolpert und in ein schwarzes Loch gefallen. [...] Indem Europa den jeweiligen Kremlherren mit ihren jeweiligen Methoden freie Hand lässt, richtet es sich am Rande des Abgrunds ein, den es zu vertiefen hilft. Noch ist nichts unwiderruflich, aber unsere politischen Führer schlagen eine falsche Richtung ein." Aber unsere politischen Führer halten sich für besonders klug - und hören dem Philosophen nicht zu. Keiner aber wird behaupten können, er hätte vom Genozid nichts gewusst.


Pax russa - Der Frieden der Friedhöfe
Tschetschenische Friedenspläne stoßen auf taube Ohren .: oben :.

Von Ekkehard Maaß, Vorsitzender der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft

Am 27. Januar verlor Tschetschenien einen seiner besten Kommandeure. Auf dem Weg zu seiner Familie und den gerade geborenen Zwillingen erlag Khamsat (Ruslan) Gelaev in den Bergen seinen Wunden, wenige Hundert Meter entfernt von seinem Messer und seiner linken Hand. Die Hand war ihm im Kampf gegen eine russische Patrouille zerfetzt worden. Wenige Tage später, am 13. Februar, verlor Tschetschenien durch einen Sprengstoffanschlag in Katar seinen Dichter und Expräsidenten Selimkhan Jandarbiev. Die Täter, Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes FSB, wurden gefasst, der erste Sekretär der russischen Botschaft in Katar gegen zwei Sportler aus Katar ausgetauscht, die zu diesem Zweck auf der Durchreise in Moskau verhaftet worden waren. Seit 1991 sind sechs tschetschenische Politiker außerhalb Tschetscheniens, vor allem in Georgien und Aserbeidschan, ermordet worden. Kommandos des FSB sollen auch in westeuropäischen Ländern tschetschenische Exilpolitiker wie Achmed Zakaev und Sait-Khassan Abumuslimov ausschalten.

Seit den Scheinwahlen im März und im Oktober 2003 hat sich die ohnehin katastrophale Menschenrecht-Situation in Tschetschenien weiter verschlechtert. Die Mordkommandos Achmad Kadyrows und seines Sohnes Ramsan machen gezielt Jagd auf Politiker und Menschenrechtler und deren Verwandte. Ebenso gefährdet sind die Verwandten von Flüchtlingen, die in Europa gegen den Tschetschenienkrieg protestieren, an Demonstrationen teilnehmen oder sich in der Presse äußern. Nach Berichten der Menschenrechtsorganisation Memorial verschwinden jede Woche 10 bis 15 Menschen. Sie landen in Filtrationslagern wie Chankala oder Tschernokossovo, werden geschlagen und gefoltert. Werden sie nicht rechtzeitig von ihren Verwandten und der Dorfgemeinschaft freigekauft, haben sie kaum eine Überlebenschance. Allein im Januar konnte Memorial die Verschleppung von 45 Personen feststellen, mehr als die Hälfte wurde schwer misshandelt und getötet, unter ihnen der Menschenrechtler Aslan Dawletukaev, Mitarbeiter der Russisch-Tschetschenischen Freundschaftsgesellschaft. Ungebrochen ist der tschetschenische Widerstand. Nach vorsichtigen Schätzungen fallen wöchentlich mindestens zehn russische Soldaten durch gezielte Angriffe der Partisanen. Terroristische Anschläge der Diversionsbrigade Bassajews, die so genannten schwarzen Witwen, und die Selbstmordanschläge unabhängig agierender Gruppierungen sind ein Produkt des Krieges und Problem für beide Seiten. Sie werden von islamistischen Kräften unterstützt und benutzt, die den Tschetschenen fremd sind. Bei allen größeren Aktionen hat der FSB seine Hand im Spiel, denn um den Terrorismus bekämpfen zu können, muss man ihn notfalls selbst produzieren, wie im August 1999 die Anschläge auf Wohnhäuser in Moskau und Wolgadonsk. Laut den Enthüllungen der russischen Journalistin Anna Politkovskaja soll der FSB über den Spitzel Terkibaev auch bei dem Anschlag auf das Moskauer Musical-Theater "Nord-Ost" Pate gestanden haben.

Grosny, Stadteinfahrt. Foto: MemorialWenn die russische Propaganda von der erfolgreichen Befriedung Tschetscheniens spricht oder der FSB heimlich verbreiten lässt, dass der von Präsident Putin eingesetzte Kadyrow seine eigene separatistische Politik betreibe, soll nicht übersehen werden, dass er als FSB-Offizier Ausführender der Befehle seiner russischen Vorgesetzten ist. Der Krieg in Tschetschenien ist keinesfalls zu Ende, eine politische Lösung ferner den je. Trotz der vielen Toten auf beiden Seiten und der verheerenden Rückwirkung des Krieges auf die Entwicklung Russlands wird der Friedensplan Aslan Maschadows von der russischen Regierung ignoriert, ebenso von den westlichen Regierungen. Nach diesem Plan ist die tschetschenische Seite bereit, den Widerstand zu beenden und eine bedingte Autonomie Tschetscheniens innerhalb der Russischen Föderation zu akzeptieren, wenn Tschetschenien unter den Schutz der UNO gestellt wird und die marodierenden russischen Soldaten für eine Übergangszeit von mindestens zehn Jahren durch Blauhelmsoldaten ersetzt werden.

Die tschetschenische Bevölkerung ist erschöpft. Ihre Lebensbedingungen sind erbärmlich. 80% der Infrastruktur ist zerstört. Die Menschen hausen in notdürftig verschlossenen Häuserruinen und Kellerlöchern. Trinkwasser muss an Wasserwagen gekauft werden. Zwar ist auf dem Markt in Grosny vieles erhältlich, doch bei einer Arbeitslosigkeit von 85% ist die Kaufkraft gering. Das Land ist ausgeplündert und kriegsversehrt, die medizinische Versorgung zusammengebrochen. Nur wenige humanitäre Organisationen schaffen es, ihre Hilfe ins Innere des Landes zu bringen. Ein weiteres großes Problem ist der Bildungsnotstand. Seit zehn Jahren erleben die Kinder statt funktionierender Schulen Krieg und Gewalt. Doch schlimmer als die soziale Not ist die Angst, verschleppt, gefoltert und getötet zu werden.

Diese Angst ist der Grund dafür, dass die Flüchtlinge in Inguschetien, deren Lager gewaltsam geschlossen werden, sich weigern, nach Tschetschenien zurückzukehren und statt dessen nach Europa fliehen. Allein in Tschechien hat sich der Flüchtlingsstrom verzehnfacht. Die Lager in Österreich sind überfüllt. Jede Woche kommen 50 Flüchtlinge in Deutschland an, um nach Frankreich, Belgien oder Norwegen weiter zu reisen.

Die Tolerierung der grausamen Verbrechen in Tschetschenien untergräbt das Rechtssystem Europas und verhindert eine demokratische Entwicklung Russlands. Ein Staat, der die Menschenrechte so eklatant missachtet wie die Russische Föderation, wird niemals in der Lage sein, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen für verlässliche Handelsbeziehungen. Ohne ein unabhängiges Rechtssystem gibt es kein Recht, ohne eine freie Presse keine öffentliche Kontrolle. Die sich bereits abzeichnende Radikalisierung Russlands und Tschetscheniens kann zu einer internationalen Bedrohung werden; demokratische tschetschenische Politiker wie Aslan Maschadov, Achmed Zakaev, Ilyas Achmadov oder Sait-Khassan Abumuslimov finden keine Unterstützung für ihre Friedenspolitik. Tschetschenien ist eine offene Wunde am Rande Europas, die die europäische Öffentlichkeit beunruhigen sollte.


Ein Tag in Tschetschenien .: oben :.

Von Barbara Gladysch, Vorsitzende der Mütter für den Frieden Düsseldorf

Grosny im Oktober 2003. Die Hauptstraßen werden ausgebessert; Kolonnen von Frauen mit Reisigbesen säubern die Straßen; langsam und bedächtig fahren Spezialpanzer zum Minenaufspüren und -vernichten auf dem Mittelstreifen; an den Straßenrändern suchen russische Soldaten mit Minensonden vorsichtig Schritt für Schritt - die Blicke angestrengt auf den Erdboden gerichtet - nach ihren eigenen Minen, die sie Monate oder Jahre vorher gegen die Zivilbevölkerung ausgelegt hatten. Oder sie spüren die Minen auf, die für sie selbst gedacht sind, versteckt von den tschetschenischen Rebellen. Die Hauptverkehrsstraße soll minenfrei sein an diesem Tag. 2002 gab es in Tschetschenien 5.695 Minenopfer. Heute darf keine Mine explodieren.

Es ist Sonntag, der 19. Oktober 2003, kein gewöhnlicher Tag: heute wird der Präsident von Tschetschenien Achmad Kadyrow feierlich in sein Amt eingeführt. Man erwartet viele wichtige Gäste aus Moskau und aus den umliegenden Republiken. Die "Stube" muss glänzen, die Sicherheit für die Staatsgäste muss garantiert sein. Alle 30 Meter steht ein Soldat. Im Hintergrund einsatzbereit Militärfahrzeuge, vom Jeep bis zum Panzer. Die linke Spur der Straße, die Fahrbahn, die in die Stadt hineinführt, ist gesperrt für die Wagenkolonnen der wichtigen Männer.

Grosny, Leben in den Ruinen. Foto: GfbV-ArchivDie Ruinenstadt Grosny ist gespenstisch ruhig. Die Straßen sind wie leergefegt; hier und da suchen streunende Hunde nach Essbarem. Die Bewohner von Grosny haben sich in ihre Ruinen zurückgezogen; oder sie fahren - wie auch wir - aus der Stadt hinaus. Es könnte heute gefährlich werden; keiner weiß, ob, wann und wo Anschläge geplant sind. Meine Freunde und ich wollen nach Urus Martan. An den Straßensperren, den "block-posts", sieht alles sauberer aus als sonst. Die russischen Soldaten sind heute nicht vermummt; doch wie immer kontrollieren sie uns mit den Kalaschnikow im Anschlag, zügiger als sonst und ohne Schikanen. Nur Rustam, unser Fahrer, muss aussteigen. Er kennt die Soldaten schon recht gut, denn fast täglich passiert er diesen Kontrollposten. Er weiß, was er zu tun hat: unaufgefordert zeigt er seine Papiere, öffnet er den Kofferraum; er tauscht einige freundliche Worte mit den Russen aus und fährt dann mit uns langsam durch die Straßensperren hindurch. Bis wir nach ungefähr drei Stunden Urus Martan erreichen, müssen wir diese Prozedur noch an fünf weiteren "block-posts" durchstehen.

In Urus Martan lebt eine Familie, die mich schon seit langem erwartet. Beim letzten Mal, im März 2003, gab es keine Möglichkeit, dorthin zu gelangen. Heute lernen wir uns kennen: die Mutter Zarema, die älteste Tochter Madina und deren sechsjähriger Sohn Musa. Die jüngere Tochter Chanifa hatte ich im Mai 2001 in Nazran (Inguschetien) im Büro der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial kennen gelernt. Chanifa hatte ein Bündel Papier in der Hand und wartete geduldig, bis Memorial Zeit für ein Gespräch hatte; sie erzählte:

Ich bin hier, um zu melden, dass mein Vater ermordet und zwei meiner vier Brüder bei einer "Säuberungsaktion" verschwunden sind. Ich habe hier alles genau aufgeschrieben und bitte Sie, uns zu helfen, damit wir erfahren, wo wir den Mord zur Anklage bringen können und wo meine Brüder sind, warum sie verschleppt wurden und warum uns das alles angetan wurde. Meine Mutter ist seitdem schwer krank, sie findet keine Ruhe. Es war der 19. April 2001. Gegen zehn Uhr abends hielten drei Militärjeeps vor unserem Haus. Maskierte Soldaten sprangen aus den Autos und rannten in unser Haus. Meine Schwester, meine Mutter und ich wurden von dem Lärm wach und verstanden sofort, dass wir versteckt bleiben sollten. Meine Mutter wollte unbedingt in die Küche; wir konnten sie davon nicht abhalten.

Die Soldaten fragten nach Wodka und Geld. Mein Vater sagte, dass er keinen Alkohol hat und auch kein Geld. Meine Mutter bot ihnen Essen an oder zwei Hühner aus dem Stall. Die Soldaten waren schon betrunken und sie lachten meine Mutter aus, dann gingen sie durch unsere Zimmer und rissen die Schränke auf, warfen die Tische und Stühle um, schossen die Lampen kaputt und gebrauchten unser Wohnzimmer als Toilette. Meine Schwester Madina und ich krochen unter unsere Decken. Mein kleiner Neffe Musa weinte laut. Meine Brüder und mein Vater stellten sich vor unsere Betten, um uns zu beschützen. Meine Mutter jammerte und bot den Soldaten alles an, was ihr einfiel, damit sie uns in Ruhe ließen. Sie wollten uns Mädchen haben, sagten sie und lachten schmutzig. "Nur über meine Leiche", sagte mein Vater. "Das kannst du gleich haben," antwortete ein Soldat und erschoss ihn. Meine Mutter fiel in Ohnmacht und stürzte auf den sterbenden Körper meines Vaters. Mein Bruder Said-Amin schrie die Soldaten an, sie hätten genug Unheil angerichtet, sie sollten jetzt endlich gehen und uns Mädchen in Ruhe lassen.

Grosny, zerstoerte Stadt. Foto: GfbV-ArchivDaraufhin schlug ihn einer der Soldaten mit der Kalaschnikow auf den Kopf, so dass er stark blutete. Said-Amin hörte aber nicht auf, uns zu verteidigen. Er habe kein Recht, sie zu beleidigen, schrie ein Soldat und stieß ihm sein Gewehr in die Rippen. Mein anderer Bruder, Ruslan, kümmerte sich um meine Mutter und wollte sie gerade auf eines der beiden Betten legen, als ein anderer Soldat ihm einen so heftigen Fußtritt gab, dass er mit meiner Mutter im Arm gegen die Wand stieß und zu Boden fiel. Dann kam ein weiterer Soldat in unser Zimmer; so waren nun fünf Soldaten in unserem Schlafzimmer; der neu hinzugekommene ordnete an, Schluss zu machen. "Die Männer nehmen wir mit. Besorgt Euch Geld, dann könnt Ihr sie ja wieder austauschen", sagte ein Soldat und warf die Bettdecken von unseren Körpern. Dann drehte er sich um, stieß dabei an meinen Vater und entdeckte, dass er noch nicht tot war. So schoss er noch dreimal fluchend auf ihn. Said-Amin blutete stark am Kopf. Ein Soldat riss ein Kissen aus unserem Bett, drückte Said-Amins Kopf in das Kissen und schleppte ihn aus unserem Haus. Ruslan durfte noch meinen toten Vater in unseren Hof tragen, wo er ihn auf eine Holzkiste legte. Dann mussten meine Brüder - in zwei verschiedenen Jeeps - einsteigen und mit den Mördern und Kidnappern fortfahren - wohin, wissen wir nicht. Meine Schwester und ich kümmerten uns um unsere Mutter, die in dieser Nacht ihren Verstand verlor.

"Wenn du das nächste Mal wieder hier bist, besuch uns in Urus-Martan", sagte damals Chanifa. Jetzt bin ich ihr Gast, bin in diesem Haus, in dem der Mord und die Gewalttaten verübt wurden. Zarema, die Mutter, sitzt in einem alten Sessel. Sie sieht uralt aus, obwohl sie erst erst 48 ist. Von der russischen Administration haben sie bisher nichts in Erfahrung bringen können, sie haben keine Spuren von den verschleppten Brüdern, sie wissen auch nicht, welche Soldaten den überfall verübt haben. Wir können nicht sehr lange bleiben, denn vor Eintritt der Dunkelheit müssen wir wieder in Grosny sein: Ausgangssperre. Die Rückfahrt nach Grosny im Regen, die Wartezeiten an den "block-posts", das martialische Verhalten der Soldaten, die finsteren Kontrollblicke ins Innere unseres Autos: da sitzt nur eine alte Frau, eine "Waynaschka": ich fühle mich angesichts dieser Wirklichkeit hilflos, voller Wut und Trauer.


Abgeschoben in den Tod
Tschetschenische Flüchtlinge in Deutschland - Fehlende Perspektive, fehlendes Verständnis .: oben :.

Von Sarah Reinke

"Mein Bruder sitzt in Abschiebehaft. Was sollen wir tun?" fragt die junge Frau am Telefon. Der 1970 geborene Adlan hatte seit 1994 die Unabhängigkeit Tschetscheniens unterstützt und auch einige Monate gegen die russischen Soldaten in seinem Land gekämpft. Dann wurde er festgenommen und in einem Filtrationslager gefoltert. Verwandte konnten ihn freikaufen und seine Flucht nach Deutschland organisieren. Hier jedoch werden die Asylanträge der Tschetschenen vom Nürnberger Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit dem Hinweis auf die innerstaatliche Fluchtalternative abgelehnt. Adlan fühlte sich nach dem negativen Bescheid bedroht und diskriminiert. Als seine Abschiebung bevor stand, wusste er sich nicht mehr zu helfen und floh weiter nach Norwegen. Die Behörden des Landes jedoch schoben ihn wieder nach Deutschland ab, nach Aussage des Norwegian Refugee Council in der Überzeugung, hier sei er sicher. über Adlans weiteres Schicksal ist noch nicht entschieden. Die GfbV bemüht sich in Zusammenarbeit mit seinem Anwalt und lokalen Unterstützern darum, Adlan aus der Haft zu befreien und seine Abschiebung abzuwenden.

Grosny, zerstoerte Stadt. Foto: GfbV-ArchivKern- und Angelpunkt der Praxis in Deutschland und anderen europäischen Ländern ist die inländische Fluchtalternative. Russische und tschetschenische Organisationen haben daher Informationen zu Fällen von Diskriminierung der tschetschenischen Flüchtlinge in der Russischen Föderation gesammelt. Zusätzlich konnten in der letzten Zeit Schicksale von aus europäischen Ländern nach Moskau abgeschobenen Flüchtlingen dokumentiert werden, aus denen hervorgeht, dass einige Flüchtlinge direkt am Rollfeld des Moskauer Flughafens vom russischen Geheimdienst verhaftet wurden und teilweise danach verschwanden. Mehrere Bundestagsabgeordnete wandten sich an das Auswärtige Amt und an die Deutsche Botschaft in Moskau mit der Forderung nach Aufklärung dieser Fälle und nach einer Aussetzung der Abschiebungen, bis klar ist, was mit diesen Menschen passiert ist. Vom Auswärtigen Amt kam die lapidare Antwort, diese Einzelfälle seien weder allgemeingültig, noch rechtfertigten sie eine Änderung der momentanen Praxis.

Das Auswärtige Amt veröffentlicht regelmäßig Lageberichte zu den Ländern, aus denen Flüchtlinge kommen. In diesen Berichten werden asylrelevante Fragen und die Möglichkeiten der Rückführung der Flüchtlinge diskutiert. Der aktuelle Lagebericht vom Januar 2004 ist in weiten Teilen sehr kritisch und spiegelt die politische und menschenrechtliche Situation in Tschetschenien und der Russischen Föderation recht wirklichkeitsgetreu wider. Ein Satz jedoch lässt aufhorchen: "Die Frage, ob eine legale Niederlassung von aus Deutschland rückgeführten Tschetschenen in der Russischen Föderation möglich sei, wurde von Memorial - trotz aller bestehenden Schwierigkeiten - bejaht." Eine Nachfrage bei Svetlana Gannushkina, Vorsitzende der Organisation "Bürgerhilfe", die die meisten Informationen über Flüchtlinge sammelt und international zur Verfügung stellt, ergab ein anderes Bild: "Ihr Außenministerium verfälscht die von Memorial, insbesondere von mir erhaltenen Informationen. Ich sprach nur davon, dass ich keine Fälle kenne, in denen ein Tschetschene alleine deswegen einer Verfolgung ausgesetzt war, weil er im Ausland war und wieder abgeschoben wurde. Das bedeutet nicht, dass er einen Platz finden kann, wo er registriert wird und ruhig leben kann, da es für Tschetschenen einen solchen Ort in Russland nicht gibt".

Wenn der erste Asylantrag unter Hinweis auf die inländische Fluchtalternative abgelehnt wurde, muss häufig ein Folgeantrag gestellt werden, in dem neue Erkenntnisse und die Dokumentation der individuellen Verfolgung belegt werden müssen. Dies ist für einige Tschetschenen, besonders für Frauen und Familien, deren Mitglieder nicht direkt an Kampfhandlungen beteiligt waren, nicht einfach. Hier kommen dann anderen Faktoren, etwa die Traumatisierung durch den Krieg, Verletzungen und psychische Krankheiten ins Spiel, die ein Leben in Russland unmöglich machen würden. Diese Punkte zu beweisen ist oft sehr kompliziert und langwierig. Das bedeutet, dass die Mehrzahl der tschetschenischen Flüchtlinge mit einer Duldung (Aussetzung der Abschiebung) manchmal jahrelang ohne langfristige Perspektive in Deutschland ihr Dasein fristen. Sich politisch zu engagieren ist gefährlich. Der GfbV liegen zahlreiche Fälle der Einschüchterung politisch aktiver Tschetschenen durch den russischen Geheimdienst vor. In diesem Zusammenhang ist der internationale Austausch über die Flüchtlingspolitik sehr wichtig. In der Schweiz, Dänemark, den Niederlanden, Belgien und Norwegen werden - wie in Deutschland - Schicksale dokumentiert und anderen Tschetschenienunterstützern europaweit zur politischen Arbeit für die Flüchtlinge zur Verfügung gestellt. Diese Organisationen gehen davon aus, dass im Moment in Europa etwa 50.000 Flüchtlinge aus Tschetschenien leben, 5.000 von ihnen in Deutschland.


Mit der Stimme des Täters
Viele Medien in Europa nehmen den Völkermord in Tschetschenien nur am Rande wahr - oder berichten mit der Terminologie Moskaus .: oben :.

Von Mateo Taibon

Am Neujahrstag 1995 war er in Grosny, erzählt der italienische Altmeister des Journalismus Giulietto Chiesa, und sah, wie mit der Zerbombung der Stadt begonnen wurde - die ersten Raketen trafen den Präsidentenpalast, während Chiesa den Platz auf der anderen Seite überquerte. "Als ich ein Jahr später zurückkehrte, fand ich den Platz nicht mehr": es waren nur mehr Geröllhaufen zu sehen, "nicht einmal die Ruinen hatte man stehen lassen." Im 2. Tschetschenienkrieg kam Chiesa wieder nach Grosny - "es gab die Stadt nicht mehr."

Grosny, zerstoerte Stadt. Foto: GfbV-ArchivTschetschenien ist ein Totenhaus, eine Gespensterlandschaft, eine Hölle. Eine vergessene Hölle, denn Medien und Politik nehmen den Völkermord nur (mehr) am Rande wahr. Zunächst wollte man von ihm noch 150 Zeilen, erzählt Chiesa, dann nur mehr 50 - "nicht einmal eine Zeile für jeden Toten, den ich täglich auf den Straßen zählte." Eine zeitlang besuchte er jeden Nachmittag eine junge Frau, redete mit ihr und trank Tee, wie um der Bestialität zu trotzen. Eines Tages fand er sie reglos auf dem Küchenboden: eine russische Granate hatte sie getötet.

Berühmte Fotografen haben beeindruckende Reportagen vom Land der Trümmer und Leichen gemacht, doch verkaufen sich die Fotos schlecht. Die Medien haben ihre Aufmerksamkeit auf andere Krisenherde gelenkt, solche, die sich besser verkaufen und ideologisieren lassen - das verwüstende und mordende Russland des feschen Wladimir stört lieb gewonnene weltanschauliche Gewohnheiten.

Das Desinteresse könnte man noch hinnehmen, nicht aber die häufig anzutreffende terminologische Komplizenschaft mit den Völkermördern. Die offizielle Einreise in die zertrümmerte Kaukasusrepublik ist Journalisten nur in Begleitung russischer Militärs erlaubt - in Begleitung jener also, die das Land in Schutt und Asche gelegt und seine Bewohner niedergemetzelt, vergewaltigt, gefoltert haben. Dennoch berichten die Medien vielfach so, als gäbe es keine derart krasse Ausnahmesituation.

Regelmäßig wird von westlichen Medien kritiklos, ohne jeden Ansatz von Hinterfragung, die Version der russischen Militärs übernommen, lässt man also den Täter sprechen und übergeht das Opfer. Regelmäßig wird der in regulär demokratischen Wahlen gewählte Präsident Aslan Maschadow - in vorbehaltloser Übernahme russischer Propaganda - als "Rebellenführer" bezeichnet. "Achmat Kadyrow machte in einer ersten Reaktion die Rebellenführer Aslan Maschadow und Schamil Bassajew für den Anschlag verantwortlich", konnte man vor einigen Wochen lesen und hören. Oder ähnlich: "Gleichzeitig machte Putin den tschetschenischen Rebellenführer Aslan Maschadow für die Bluttat verantwortlich". Nicht minder zweifelhaft arbeitet oft das News-Angebot im Web: "Der Rebellenführer Aslan Maschadow bezeichnete die Wahl am Sonntag nach Angaben eines mit den Separatisten sympathisierenden Internetdienstes ..." Aus dieser Logik heraus ist das Portal, das diese Falschmeldung verbreitete, ein mit dem russischen Völkermord sympathisierender Internetdienst.

Moskaus Doktrin hat in die Redaktionen Eingang gefunden. Russland überzieht das Land mit Terror, jagt die gewählte Regierung aus dem Amt, um eine ungewählte Führung einzusetzen (also ein Putsch) - und die europäischen Medien schließen sich terminologisch dem Terror an und bezeichnen den gewählten Präsidenten als "Rebellenführer". Und wenn man stattdessen Putin als das bezeichnen würde, was er tatsächlich ist - als blutigen Massenmörder? "Putin, der bekannt ist für sein hartes Vorgehen gegen tschetschenische Rebellen, stellt sich am 14. März der Wiederwahl" - hieß es in einer Agenturmeldung Anfang Februar. Auch "seriöse" Zeitungen haben diesen Unsinn übernommen, der das Vorgehen Putins rechtfertigt und die Grausamkeiten gegen die Zivilisten ausblendet.

Den Vernichtungskrieg gewollt hatte ein Freund des Westens, Boris Jelzin, mit gesteigerter Brutalität weitergeführt hat ihn ein noch besserer Freund des Westens, Wladimir Putin, der persönliche Freund des deutschen Bundeskanzlers, welcher zusieht, wie sein Freund ein zerbombtes Land noch einmal zerbomben und seine Menschen massakrieren lässt. Die verruchten politischen Allianzen scheinen sich auf die Berichterstattung abzufärben. In der Berichterstattung zur gemarterten Kaukasusrepublik ist terminologische Schlamperei häufig anzutreffen. "Russland führt seit fast zehn Jahren einen Kampf gegen Separatisten in dem von Moslems dominierten Tschetschenien." Das von orthodoxen Christen dominierte Russland? Dominiert in Tschetschenien in Wirklichkeit nicht der russische Terror?

Permanent werden die Tschetschenen pauschal als Rebellen bezeichnet (bestenfalls als Separatisten) und damit kriminalisiert, das Land als "abtrünnige Republik". Sicherlich gibt es auf tschetschenischer Seite Terroristen, doch gibt es sie in viel höherem Maße auf russischer Seite. Dem russischen Terror fallen - auch wenn man die Verbrechen nicht gegeneinander aufrechnen sollte - weit mehr Menschen zum Opfer als den Terroranschlägen der Rebellen.

Die Depeschen der russischen Militärs und ihrer Agenturen werden meist wie neutrale Information weitergegeben: Es seien "Rebellen" ums Leben gekommen, heißt es regelmäßig in den Depeschen, und trotz der Unwahrscheinlichkeit wird diese Diktion regelmäßig (ohne Relativierung) abgeschrieben, die journalistische Pflicht des Zweifels, die bei anderen Konfliktherden selbstgefällig in den Vordergrund gerückt wird, scheint abhanden gekommen zu sein. Es ist Krieg, die Bilder zeigen die Apokalypse, und es kommen nur "Banditen" und "Rebellen" ums Leben, keine Zivilisten, Frauen, Kinder, Alte, Kranke ... Stellen sich die Journalisten keine Fragen? Die Medien übernehmen mit der Terminologie und der Version des Täters die Kriminalisierung eines gesamten Volkes, machen sich zu Dienern des Rassismus und zu verbalen Komplizen des Völkermordes.


Erzählerin des Schreckens
Die tschetschenische Menschenrechtlerin Lipkan Basajewa hilft vergewaltigten Frauen .: oben :.

Von Andrea Strunk

Der Fall Nummer 57949/00 in den Akten des Europäischen Gerichtshofs ist der Fall der Tschetschenin Lipkan Basajewa gegen Russland. Russland wird in der Anklageschrift vorgeworfen, gegen drei Artikel der Europäischen Konvention der Menschenrechte verstoßen zu haben. Gegen jene, die das Recht auf Leben, die Unverletzbarkeit des persönlichen Besitzes und Rechtshilfe vor Gericht garantieren. Fünf weitere Klagen aus Tschetschenien hat der Europäische Gerichtshof zur Verhandlung zugelassen. In den anderen Fällen geht es um Missachtung des Rechts auf Leben und Unversehrtheit. Zusammen genommen ergibt sich aus den Anklagen das Bild eines Täters, der willkürlich, ohne Empathie und ohne Mitleid vernichtet.

Grosny, zerstoerte Stadt. Foto: GfbV-ArchivAn einem grauen, verregneten Wintertag kommt Lipkan Basajewa nach Hamburg, um dort vor der kleinen tschetschenischen Gemeinde über die Situation in Tschetschenien und über ihre Arbeit als Menschenrechtlerin zu sprechen. Sie will von der Vereinigung der Frauen des Nordkaukasus erzählen, deren Vorsitzende sie ist. Sie wird von Memorial erzählen. Geschichten wie: Wenn wir schnell genug bei der Polizei oder beim Militär sind, sobald einer der unseren verhaftet wird, können wir den Tod manchmal verhindern. Sie wird berichten, wie sie im vergangenen Herbst in Inguschetien eine Einrichtung für vergewaltigte Frauen gegründet hat, ein Projekt, das den Namen eines tschetschenischen Mädchens führt, das im Mai 2000 von einem russischen Oberst vergewaltigt und ermordet wurde: Elsa Kungajewa.

Zwei Kriege und das Alter sind nicht spurlos an Lipkan Basajewa vorübergegangen. Ein Netz von Linien läuft über ihr Gesicht, die Augen sind melancholisch, weise und ein wenig hochmütig zugleich. Die Hansestadt ist die letzte Station einer dreiwöchigen Deutschlandreise, auf der sie viel geredet, um Geld, Unterstützung und Sympathie für ihr Frauenzentrum, für ihr Land geworben hat. Sie hat Leid und Tod geschildert, hat die Tränen ihres Volkes zu Sprache geformt, hat das Unrecht, die Unmenschlichkeit beschworen. In präzisen Worten hat sie die Vernichtung einer Gesellschaft beschrieben: die Männer verschleppt, ermordet, die Frauen vergewaltigt, verwitwet, die Kinder verwaist. Keiner weiß, wie viele tot sind. Keiner weiß, wie viele noch am Leben sind. Man brauche eine Volkszählung, hat Lipkan gesagt. Eine Einschätzung der Verluste wäre doch wohl genug Beschreibung der humanitären Katastrophe, um die EU, die OSZE, die UN, den Europarat zur Reaktion zu zwingen. "Immer können sie doch nicht schweigen." Nur an der Zahl der überlebenden lässt sich ermessen, glaubt Lipkan, welche Hoffnung die Tschetschenen für eine Zukunft nach dem Krieg haben dürfen. Untergang oder Fortbestand?

Lipkan hat mit Abgeordneten, Menschenrechtlern, Friedensaktivisten und Vertretern moslemischer Gemeinden gesprochen. Ihre Stimme ist klar und ohne Anklage geblieben. Für Mitleid ist sie nicht gekommen, das wäre zu wenig. Sie will Gerechtigkeit für Tschetschenien. Sie will den Westen einbinden, will, dass Europa Verantwortung zeigt. Sie reiht Namen, Fakten, Zahlen und Daten zu einer Kette. Diese wie einen Strick um Russlands Hals zu legen, das erwartet sie von Europa. Sie erzählt, damit niemand eines Tages sagen kann, er habe es nicht gewusst. Dass die Zahl derer, die ihr zuhören, kleiner wird, weiß Lipkan. In der westlichen Wirklichkeit, in der sich die Erfahrungen eines sicheren Lebens ebenso spiegeln wie die Propaganda des Anti-Terror-Kampfes, haben die grauenvollen Erzählungen aus Tschetschenien nur noch wenig Gewicht. Politisch hat das Land keine Bedeutung, das tschetschenische Volk aus einigen hunderttausend Menschen ist nur eine Schachfigur im Machtpoker der Großmächte. Der russische Außenminister Ivanow hat die Gesellschaft für bedrohte Völker, die Lipkan sehr unterstützt haben, zu Unterstützern von Terroristen erklärt. Niemand hat dagegen protestiert. In der westlichen Welt, in warmen Räumen, an sauberen Tischen vorgetragen, ist der Schrecken Tschetscheniens wie um Lichtjahre entfernt.

Bevor 1999 der zweite Tschetschenienkrieg begann, war Lipkan Basajewa Dozentin für russische Literatur und Linguistik an der Universität von Grosny. Zusammen mit Tausenden von anderen Zivilisten floh sie im Oktober 1999 nach Inguschetien. Trotz der Vereinbarung, für die Flüchtenden einen Korridor zu öffnen, wurde der Treck aus der Luft beschossen. Das Auto der Basajewas und all ihre Habe wurde dabei zerstört. Im Gegensatz zu vielen anderen blieben Lipkan und ihre Familie aber am Leben.

In einem Gemeindezentrum am Rande von Hamburg warten gut dreißig Männer auf Lipkan. Obwohl es doch um Frauenprojekte geht, ist nur eine Frau gekommen. Man müsse das Schweigen brechen, sagt Lipkan, die Schande von den Frauen nehmen. Oberst Budanow, der Schänder und Mörder von Elsa Kungajewa, wurde wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen. Dass die Vergewaltiger zur Rechenschaft gezogen würden, erwarte sie nicht. In erster Linie ginge es um die medizinische und psychologische Behandlung. Darüber hinaus erhielten die Frauen rechtlichen Beistand, falls sie doch Anklage erhöben, man unterstütze sie bei der Suche nach Angehörigen, helfe ihnen, sich und ihre Kinder zu ernähren. "Wir haben Nähmaschinen gekauft", erzählt Lipkan. "Nun nähen die Frauen und haben endlich Geld." Dann redet sie über Grosny, über die Verlagerung ihrer humanitären Arbeit zurück in die tschetschenische Hauptstadt, um neue gesellschaftliche Strukturen zu schaffen. "Es zeigt, dass wir Hoffnung haben. Wir arbeiten jetzt mitten in Tschetschenien."

Plötzlich wird es still, und man meint, die zerfaserte Kulisse einer Ruinenstadt schöbe sich in den Raum. "Mitten in"-Sehnsucht ist das. Und Angst. Für die Männer, die an diesem Tag gekommen sind, ist Grosny Wunde in ihrer Seele. Nicht Wort. Nicht Wirklichkeit. Nicht einmal Bild. Von einer Stadt, in der jeden Tag geschossen wird, darf man keine Bilder vor Augen haben. Niemand von den Männern im Saal weiß, welches der Gebäude noch steht. Von Freunden, Verwandten, Lieben, darf man keine Erinnerung haben. Niemand weiß, wer noch lebt. In einer Zeit, in der in Tschetschenien täglich Menschen verschwinden und dann als unkenntliche Tote wieder auftauchen - mit ausgestochenen Augen, abgeschnittenen Gliedmaßen, von Handgranaten in Stücke gefetzt - ist die Erinnerung ein erstarrter Zustand und falsche Nostalgie.

Nun aber steigen aus Lipkans Sätzen die verdrängten Bilder auf: die der Frauen, Kinder, Eltern, Geschwister, die sie zurückließen, weil man Tschetschenien nur mit einem gefälschten Visum verlassen, den Preis dafür nur für einen aus der Familie zahlen kann. Zwischen Lipkans Sätzen wohnt die Gewalt, lauern Hunger und Armut. Die zu dünne Kleidung der Kinder, die Einsamkeit der Frauen, der Winter Tschetscheniens, die Kälte der Flüchtlingslager, all das verdichtet sich zu einer Wirklichkeit. "Wir danken Dir, Lipkan", sagen die Männer schließlich. "Und wir danken den Menschen hier in Deutschland, die uns aufgenommen haben. Wir möchten wissen, was wir tun können, damit man aufhört, Tschetschenen für Terroristen zu halten." Da schweigt Lipkan, die Beredte.

Aus bedrohte Völker-pogrom 224 (2/2004)


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/031117ade.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/031022de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/031002de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030930de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030918de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030708de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030703de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030630de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030619de.html | www.gfbv.it/3dossier/cecenia/indexcec-dt.html

* www: www.iccnow.org | www.unhcr.ch | www.unhchr.ch | www.unhchr.ch/tbs/doc.nsf/(Symbol)/CCPR.C.RUS.2002.5.En?OpenDocument | www.chechnya-mfa.info | www.memo.ru | www.gfbv.ch/pdf/02-03-043.pdf | www.perlentaucher.de/artikel/1868.html

Letzte Aktual.: 30.12.2004 | Copyright | Suchmaschine | URL: www.gfbv.it/3dossier/cecenia/cecen-224.html | XHTML 1.0 / CSS | WEBdesign, Info: M. di Vieste
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