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Das Land der Lager
Apartheid gegen die Roma in Italien
Zusammenfassung eines Berichts des EUROPEAN ROMA RIGHTS CENTER, November 2000
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Die alte Roma-Lager in Bozen (1995)Am 17. Mai 2000 hat Paolo Frigerio, Bürgermeister von Cernusco sul Naviglio (Mailand), eine öffentliche Erklärung abgegeben. Wie Zeitungen und Fernsehen berichteten, hatte Frigerio gesagt, er würde einem Bauern fünf Millionen Lire aus der Gemeindekasse zahlen, damit dieser Gülle in einem städtischen Areal auslasse, wo eine Gruppe Roma zur gleichen Zeit ihre Wohnwägen abgestellt hatte. Laut Bürgermeister sei dies "die einzige Art, um die Rechnung mit den Zigeunern in Ordnung zu bringen, ein Akt der Gerechtigkeit, wenn man das betrachtet, was sie uns als Erbe zurücklassen, bevor sie wieder wegziehen."(1) Der Bürgermeister Frigerio war nicht der einzige, die solchen Töne gegen die Roma angeschlagen hat. Die Lega Nord bedient sich in den öffentlichen Erklärungen häufig einer rassistischen und gehässigen Sprache gegen die Roma. Während des Wahlkampfes für die Regionalwahlen im April 2000 ließ Umberto Bossi Flugblätter mit folgendem Slogan verteilen: "Wenn ihr nicht Zigeuner, Marokkaner und Verbrecher bei euch zuhause wollt, wenn ihr Herr im eigenen Haus und in einer lebenswerten Stadt sein wollt, so wählt Lega Nord".(2)

Bei den Regionalwahlen des 16. April 2000 hat die Mitte-Rechts-Koalition mit den Rechtsextremen und Lega Nord mit eingeschlossen, die Mehrheit erlangt. Die Wahlkampagne vor allem der rechten Parteien enthielt ausdrückliche Botschaften gegen die Roma. In Voghera z. B. ließ der Kandidat der Mitte-Rechts-Koalition Aurelio Torriani Flugblätter verteilen, um den Gegner der Mitte-Links-Koalition Antonella Dagradi mit dem Slogan zu diskreditieren: "Die Zigeuner werden sicher Antonella Dagradi wählen. Willst du das gleiche tun? Bei der Versammlung der Lega Nord in der gleichen Stadt, angeführt vom Parlamentsabgeordneten Mario Borghezio(3), haben die Parteianhänger das rezitiert, was sie als "Gebet des Zigeuners" bezeichnen. Dieses lautet: "Ein schönes Milliönchen gib uns im Monat, die Gemeinde hat eh nicht andere Spesen, gib uns ein Haus mit Priorität, denn wir sind zwar Nomaden doch bleiben hier, wir möchten aber nicht "vergast" werden von den Vogheresi, die heute ein wenig verärgert sind." Der Text war auf Flugblättern verteilt werden.(4)

Die brandstiftenden Erklärungen der Politiker fallen auf fruchtbaren Boden. Jüngste Umfragen bestätigen, dass die Italiener für die Roma wenig Sympathien haben und diese fürchten, häufig auf der Grundlage von bescheidenen oder gar keinen eigenen Erfahrungen damit.

Bei einer Umfrage über die Kinderängste, durchgeführt von Istituto Ricerche Economiche e Sociali [IRES] im Piemont an 1.521 Kindern im Alter zwischen acht und neun Jahren, hat sich herausgestellt, dass 36% jener Kinder, die Angst davor haben, sich im Freien aufzuhalten (das sind 60% der Kinder) dies auf die Gefahr durch "Drogenabhängige, Zigeuner und Marokkaner" zurückführen.(5) 82% der Befragte erklären, dass die Ängste von den Informationen kommen, die ihnen von den Eltern und Lehrern oder auch indirekt gegeben wurden.

Im Oktober 1999 hat das "Dokumentationszentrum für die Solidarität mit den Nomaden" der religiösen Gemeinschaft Sant'Egidio an die 200 Leute in der Region Lombardei befragt. Auf die Frage "seid ihr für die von der Region genehmigte Errichtung von Wohnlagern für die Nomaden?" haben 70% negativ geantwortet. Als Begründung wurde angegeben: "Sie stehlen", "sie sind schmutzig", "sie entführen die Kinder" und "ich weiß nicht".

In Italien sind die romafeindlichen Klischees sehr verbreitet. Die Sendung "La Zingara" (Rai Uno) bestätigt dies und verbreitet jeden Abend das überlieferte Bild der "gitana" (Zigeunerin), mit bunten Kleidern und viel Schmuck, eine Kartenlegerin geheimnisvoller und zwielichtiger Ausstrahlung, zwischen Magie und Geschwätz. Der Karren des Bühnenbildes erinnert an das Wanderleben, während die Witze und Kommentare, die die Phasen des Spiels kommentieren, beunruhigend sind. Laut einigen lokalen Überlieferungen, sollen die Roma die Nägel für das Kreuz Jesu hergestellt haben.(6) In ganz Italien ist das Gerücht verbreitet, dass die Roma die Kinder entführen und Unglück bringen. In der italienischen Sprache gibt es zahlreiche romafeindliche Ausdrücke. Im römischen Dialekt ist es üblich zu sagen "du bist wirklich wie ein Zigeuner" um ihn des Diebstahls, der Lüge oder allgemein der Unehrenhaftigkeit zu bezichtigen. In vielen Dialekten heißt "du gehst herum wie ein Zigeuner", dass die betreffende Person sich schlecht kleidet oder sich nicht wäscht.

92% der 1.521 vom IRES Piemont befragten Kinder haben erklärt, ohne dass ihnen von den Befragern ein entsprechender Hinweis gegeben wurde, dass sie von den Zigeunern Angst haben "weil sie die Kinder entführen". In der Meinung vieler Italiener sind die Roma der Archetyp der kriminellen, also unerwünschten Einwanderer. Diese Feindseligkeit hat ihren Höhepunkt erreicht, als im Sommer 1999 an die 10.000 Roma aus dem Kosovo nach Italien kamen - aufgrund der ethnischen Säuberung durch die Kosovo-Albaner nach dem Ende der NATO-Bombardements.

Die Roma kamen aus dem Osten nach Italien, nachdem sie ihr Ursprungsland Indien verlassen hatten. Die ersten Zeugnisse über Roma auf italienischen Territorium stammen aus dem Beginn des 15. Jahrhunderts. Mit der Ankunft der Zigeuner gab es die ersten Zeugnisse von Ausweisung und Verfolgung, so wie Dekrete, die jenen Straffreiheit zusicherten, die "Zigeuner umbringen", so wie dies in einem Fall um Maximilian I. im Jahre 1500 bekannt ist. Die Diskriminierung hat die Roma in Italien in ihrer ganzen Geschichte begleitet.

Es gibt keine gesicherten Daten über die Zahl der Roma in Italien. Laut offizieller Angabe sind es 130.000, doch ist dem ERRC die Zählmethode nicht bekannt. Einige NGO’s schätzen die Zahl der Roma mit italienischer Staatsbürgerschaft zwischen 60.000 und 90.000, die Zahl der im Ausland geborenen Roma (oder derer, die in Italien von eingewanderten Eltern geboren wurden), zwischen 45.000 und 70.000 (es handelt sich besonders um Personen, die aus dem Osten Europas kommen, vor allem aus Ex-Jugoslawien. Einige von diesen sind "illegale" Einwanderer. Die Roma, die versucht haben, ihre Aufenthaltspapiere in Ordnung zu bringen, sind oft in Besitz einer vorübergehenden, meist kurzen Aufenthaltsgenehmigung. Der weitaus größte Teil der an Roma vergebenen Genehmigungen hat die Dauer von einem bis zu sechs Monaten.

Der größte Teil der Roma lebt abgeschieden von der italienischen Gesellschaft. Für mehr als die Hälfte der Roma Italiens ist diese Trennung physisch: Die Roma leben getrennt von den anderen Italienern. In einigen Zonen werden die Roma ausgeschlossen und ignoriert, leben sie auf schlammigen Boden und heruntergekommen, ohne die grundlegenden Dienstleistungen. Diese Roma bewohnen verlassene Gebäude oder lagern neben Straßen oder sonst wo im Freien. Diese Ansiedlungen werden oft als "illegal" oder "nicht genehmigt" bezeichnet und können folglich immer kurzfristig geräumt werden, was oft vorkommt. Eine rassistische Gesellschaft grenzt die Roma aus und verhindert ihre Integration. Wenn sich die italienischen Behörden oder Politiker in der Frage der Roma eingesetzt haben, dann zumeist nicht für die Integration in die italienische Gesellschaft, sondern für das Gegenteil: Am Beginn des 3. Jahrtausends ist Italien das einzige Land Europas, dass ein öffentlich organisiertes Netz von Ghettos hat, um den Roma die Teilnahme an der Gesellschaft oder auch nur den Kontakt mit ihr oder die Integration unmöglich zu machen". Im italienischen Sprachgebrauch leben diese Roma in genehmigten "Lagern" (oder Ghettos.)

Die Grundlage des Verhaltens der italienischen Regierung ist die Überzeugung, diese seien "Nomaden". Zwischen Ende der 80er Jahre und Beginn der 90er Jahre, haben zehn Regionen Italiens Gesetze für den "Schutz der Kultur der Nomaden" erlassen, indem sie Lager errichten ließen.(7) Dieses Projekt hat die Auffassung offizialisiert, alle Roma und Sinti seien Nomaden und dass sie nur in eignen, vom Rest der italienischen Gesellschaft getrennten Wohnlagern leben können.(8) Das Ergebnis ist, dass viele Roma dazu gezwungen wurden, nach dem romantischen, repressiven Bild der Italiener zu leben. Die italienischen Politiker behaupten, dass ihr Wunsch, in Häusern zu leben nicht authentisch sei und verweisen sie in die "Nomadenlager". M. D., ein 20jähriges Sinti-Mädchen, gehört zu einer italienischen Sinti-Karawane, die im Winter in Italien leben und im Sommer in Deutschland und in der Schweiz. Auf die Frage des ERRC, ob sie weiterhin so leben möchte, hat sie geantwortet: "Nein, wir suchen ein Haus und ein Leben wie eures".

Diese und viele andere, ähnliche Stellungnahmen stoßen auf die tauben Ohren der Politiker und der einfachen Bürger. Ein italienischer Delegierter hat beispielsweise dem Komitee für die Beseitigung der rassischen Diskriminierungen der UNO im März 1999 gesagt, daß die Rom, da sie von Natur aus Nomaden seien, lieber in den Lagern leben.(9) Die Theorie des "Nomaden" wird sehr häufig dazu verwendet, um den Ausschluss der Roma aus der Verantwortung und aus den Entscheidungsmöglichkeiten zu rechtfertigen, die den Erwachsenen gewöhnlich zugestanden werden. Die Beschreibung der Roma als "Nomaden" wird nicht nur gebraucht, um sie abzusondern und sie zu infantilen Lebensbedingungen zu verordnen, sondern auch, um die geläufige Ansicht zu bekräftigen, wonach die Roma nicht Italiener seien und dass sie mit Italien nichts zu tun haben.

Die grenzenlose anthropologische Sensibilität der italienischen Behörden und der Politik funktioniert nur in negativem Sinn, um die Möglichkeit auszumerzen, die Roma als Teil der italienischen Gesellschaft zu betrachten. So sind die Ämter, die sich um die Roma kümmern, als "Uffici nomadi" deklariert und unterstehen den Ämtern der Einwanderungspolitik. Ähnliches bezeugen die Ämter für "Ausländer und Nomaden", wo die Roma in den Augen der Behörden als Ausländer und Streuner gelten. Diese Ämter sind auch für jene Roma und Sinti zuständig, die nicht eingewandert sind, sondern italienische Staatsbürger sind.

Aufgrund der ständigen Berichte über romafeindliche Erklärungen der Politiker und über die Gewalt der Ordnungskräfte, hat der ERRC 1997 eine Nachforschung mit einer kurzen Felderfahrung begonnen. Von 1998 bis heute hat der ERRC die italienische Situation, mit einem Korrespondenten im Norden und einem in Rom, der zuständig ist auch für den Süden, regelmäßig erfasst. Im Januar 1999 wurde eine längern Nachforschung in Lagern durchgeführt. Der ERRC hat Beziehungen zu verschiedenen italienischen NGO’s aufrecht erhalten, die sich für die Rechte der Roma und der Minderheiten allgemein einsetzen. Der vorliegende Bericht fußt auf diese Nachforschungen. Dokumentiert wird auch die Gesetzesübertretung italienischer Behören, mit eingeschlossen jene extremen Fälle, in denen Polizeigewalt zum Tod von Roma geführt hat. Der ERRC unterstreicht die massive Zerstörung des Eigentums und der Wohnungen der Roma und dokumentiert die Intensivierung der Tätigkeiten der Behörden für die Ausweisung der Roma aus Italien. Belegt werden außerdem die Diskriminierungen seitens der Bürger, vor allem im Zugang zu den öffentlichen Diensten. Der Bericht überprüft auch die Verletzungen der Rechte der Roma in den Bereichen Bildung und Arbeit. Zum Schluss untersucht der ERRC die Anstrengungen der Regierung im Kampfe gegen die rassische Diskriminierung, vor allem in Bezug auf die Kritiken der Vereinten Nationen. Den Abschluss bilden Empfehlungen der Regierung für die Verbesserung der Situation in den Lagern und für den Schutz der Rechte der Roma.

Anmerkungen:
1. Siehe dazu «La Repubblica» [Ausgabe von Mailand], 19. Mai 2000, sowie «il manifesto» desselben Tages.
2. Solche Erklärungen sind keine Neuigkeit. Im September 1995, während eines öffentlichen Diskussion über die Wohnbedingungen der Zigeuner in Florenz, soll Riccardo Zucconi, der lokale Pressesprecher der Grünen, erklärt haben, dass die Roma eine Infektion sind und dass neue Wohngegenden für sie zu schaffen hieße, die Epidemie in ganz Florenz zu verbreiten (siehe dazu «il manifesto», 23. September 1995). Anfang Januar 1997 hat die Jugend der Lega Nord in Mailand Demonstrationen gegen die illegalen Einwanderer und die "Zigeuner" veranstaltet; diese wurden beschuldigt, die Stadt zu belagern (siehe dazu «il manifesto», 9. Januar 1997, zitiert nach Institute of Race Relations, European Race Audit, Bulletin n. 23, May 1997, Seiten 19-20].
3. Der Abgeordnete hatte bereits durch andere rassistische Aktionen auf sich aufmerksam gemacht, so als er in einem Zug Mailand-Turin eine "ethnische Säuberung" durchführte, in dem er Desinfektionsmittel auf schwarze Einwanderer sprühte. Die Aktion wurde vom Lega-Fernsehen "Telepadania" übertragen. Eine Woche später hat es Umberto Bossi abgelehnt, sich zu entschuldigen.
4. Trotz entsprechender Zusicherungen der italienischen Regierung, dass die Gesetze gegen den Rassismus immer angewendet werden und dass bei Mitgliedern der Regierung oder des Parlamentes gerichtliche Schritte eingeleitet werden, ist dem ERRC nicht einmal ein offizieller Tadel bei solchen Fällen bekannt.
5. R. Miceli, Sicurezza e paura, Arbeitspapier Nr. 127, IRES Piemonte, Oktober 1999 (www.ires.piemonte.it/EP04.htm), S. 54.
6. D. Soustre De Condat, Rom, una cultura negata, Arti Grafiche Siciliane, Palermo 1997, S. 13.
7. Das Gesetz 77 vom 22.12.1989 der Region Lombardei trägt den Titel "Azione regionale per la tutela delle popolazioni appartenenti alle «etnie tradizionalmente nomadi e seminomadi»". Ein ähnliches Gesetz, das 1994 in den Marken erlassen wurde, trägt den Titel "Interventi a favore degli emigrati, degli immigranti, dei rifugiati, degli apolidi, dei nomadi e delle loro famiglie." Das Rundschreiben 4/91 des Innenministers betraf die Wohnsiedlungen von "nomadi, zingari ed extracomunitari". Das Rundschreiben machte auf die "Schwierigkeit eines Prozesses der effektiven Integration" hin und ordnete eine "genaue und systematische Bestandsaufnahme der größten Siedlungen der Nomaden und Zigeuner wie der Ausländer in Italien. Die Regierung finanziert vor allem Vereine von Nicht-Roma, die bei den Roma als Vermittler fungieren. Die wichtigste Organisation ist die Opera Nomadi, die vom Priester don Bruno Nicolini gegründet wurde.
8. Die italienischen Medien verwenden den Begriff "Nomade", "Zigeuner" und "Rom", in den Schlagzeilen wird zumeist der Begriff "Nomade" verwendet. Ein italienischer Journalist hat dem ERRC erklärt, dieser Begriff sei am besten dazu geeignet, die Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken.
9. Erklärung von Luigi Citarella, Chef der italienischen Delegation bei der 54. Sitzung in Genf, am 9. März 1999

Siehe auch:
Link Sinti und Roma | ERRC | Presseerklärung: Ein Licht für Verfolgte! | Italienische Monatszeitschrift Carta
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