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Indian country

Der Niedergang geht weiter. Ernüchterndes Ende eines versuchten Aufstandes gegen Ausgrenzung, Diskriminierung, Entrechtung

Wolfgang Mayr

Bozen, 1. August 2006

Innu auf Labrador: Ein Leben in ärmlichen Verhältnissen. Innu auf Labrador: Ein Leben in ärmlichen Verhältnissen.

Die Schießerei auf dem Pine Ridge-Reservat der Lakotas in Süd-Dakota zwischen AIM-Mitgliedern und FBI-Beamten vor 31 Jahren war der Anfang vom Ende der Red Power-Bewegung. Zwei tote FBI-Beamte und die Verhaftung von Leonard Peltier brachen der Bewegung das Genick. Inzwischen ist Peltiers Unschuld auch in Teilen der indianischen Gemeinden umstritten. So warf Paul DeMain, Herausgeber der indianischen Zeitung News from Indian Country und langjähriger Unterstützer Peltiers, Peltier vor, für die Erschießung der beiden Agenten verantwortlich gewesen zu sein. DeMain und seine Zeitung hatten die Todesumstände von Anna Mae Pictou-Aquash untersucht, einer Peltier nahestehenden AIM-Aktivistin, die 1975 ermordet worden war. DeMain und seine Journalisten befragten Dutzende von Personen und schlössen aus deren Aussagen, dass Pictou-Aquash getötet wurde, um Peltiers Verantwortung für den Tod der beiden Agenten zu vertuschen. In der Folge wurden 2003 zwei AlM-Mitglieder wegen der Entführung und Ermordung Pictou-Aquashs angeklagt.

Leonard Peltier reichte eine Verleumdungsklage gegen DeMain ein. Das Verfahren endete im April 2004 mit einem Vergleich: Peltier, der ausdrücklich nur an einer Gegendarstellung interessiert war, verzichtete auf Schadensersatzforderungen. Im Gegenzug verpflichtete sich DeMain zur Abgabe einer öffentlichen Erklärung, in welcher er explizit anerkannte, dass Peltier weder einen fairen Prozess erhalten habe, noch in irgendeiner Weise in die Ermordung Pictou-Aquashs verwickelt gewesen sei.

Die öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie die Besetzung von Alcatraz, der Indianerbehörde BIA in Washington und von Wounded Knee in Süd-Dakota machten in den 60er und 70er Jahren die Indianerbewegung populär. Die Bürgerrechtler aus den städtischen Indianer-Ghettos und die Traditionalisten der Reservate wurden von Polizei und Justiz in langjährige Prozesse verwickelt. Die Strategie ging auf. Die Militanten waren mit der eigenen Verteidigung beschäftigt. Angehörige der Red Power-Bewegung auf den Reservaten wurden ermordet. Das movement verlor an Schwung. Nur die alternativen Schulprojekte überlebten das konzertierte Vorgehen von Polizei und Justiz. Auf den Reservaten und in den Städten gründeten besorgte Eltern, angeregt auch von indianischen Radikalen, zwei- und mehrsprachige sowie bikulturelle Schulprojekte. Neue Impulse krempelten das Bildungssystem der Reservate teilweise um.

Nach Jahren der Ausgrenzung fanden indianische Sprachen wieder Platz im Lehrprogramm. In seinem Sammelband "Indianische Realität" kommt Wolfgang Lindig zum Schluss, dass sich die von kanadischen und US-amerikanischen Regierungen gewährten Freiräume im Erziehungsbereich positiv auswirken. Als Modell zitiert Lindig die Navajos, die über ihre "Kontraktschulen" bikulturell und mehrsprachig erziehen; die Vermittlung erfolgt durch indianische Lehrkräfte. Mehr als 30.000 indianische Kinder besuchen die mehr als 30 selbstverwalteten Stammesschulen. Der politisch-kulturellen Aufbruch blieb nicht ohne Folgen. So konstatiert die Harvard-University einen Drang nach Selbstbestimmung, der zu neuer kultureller und wirtschaftlicher Energie führt. Der Abenaki-Schriftsteller Joseph Bruchac kommt zum Schluss, dass die indianischen Nationen der USA in die Zukunft blicken ("Indianer - ein Volk blickt nach vorn"; National Geographie Deutschland, September 2004). Bruchac stellte auf seiner Reise durch das indianische Amerika fest, dass es eine Reihe realisierter Alternativen gibt. So betreiben die Cheyenne-River-Indianer eine Viehwirtschaft mit mehr als 3.000 Bisons. Das erwirtschaftete Geld kommt den Angehörigen des Stammes und dem Ankauf von Land zugute.

Die Anishinaabe/Chippewa der Bois-Forte-Reservation im nördlichen Minnesota nutzten ihre Kasinogewinne zum Aufbau einer Wildreis-Landwirtschaft. Die Spielsucht ermöglichte diesen Chippewa die Rückkehr zur traditionellen Bewirtschaftung ihres Nett Lake. Im Alleingang schaffte es Winona LaDuke von den Anishinaabe (White Earth-Reservat in Wisconsin - WELRP), eine Alternative anzubieten. Ihr White Earth Land Recovery Project (www.nativeharvest.com) ist eine nachahmenswerte Selbsthilfestruktur geworden. Mit dem Wildreis-Unternehmen "native harvest" schafft das WELRP Arbeitsplätze und bietet Perspektiven an. Langfristiges Ziel ist der Rückkauf von 120 Quadratkilometern Land. Vor Gericht ist Winona LaDuke wegen "Verjährung" der Landansprüche gescheitert. Mit Spenden kaufte WELRP bereits mehr als fünf Quadratkilometer altes Anishinaabe-Land zurück.

Neues entdeckte Andrian Kreye bei den Navajos/Dine im Südwesten der USA für "Geo" (Nr. 4, Oktober 2000): Das Navajo-Reservat, so groß wie Bayern und mit 170.000 Einwohnern überaus spärlich besiedelt, ist indian country. Ein Großteil der Navajo lebt als Farmer oder Schafzüchter in den Weiten des Landes. "Navajo können ihr ganzes Leben unter Navajo verbringen, mit Nachbarn in ihrer Muttersprache reden und an allen traditionellen Ritualen teilnehmen", schreibt Kreye. Die modernen Navajo haben sich Schulen und Krankenhäuser gebaut, sie beteiligen sich am Abbau von Rohstoffen, betreiben Landwirtschaft im großen Stil. Die Navajo-Nation krempelte in den vergangenen Jahren ihr Sozialsystem um. Es wurde das Wohlfahrtssystem reformiert und das Gießkannenprinzip in der Fürsorge abgeschafft. Finanzielle Hilfe von der Stammesverwaltung gibt es nur mehr für verarmte Familien - und auch nur dann, wenn diese bereit sind, sich weiterzubilden.

Das Einkommen der Hälfte der Einwohner liegt unter der Armutsgrenze. Das durchschnittliche Jahreseinkommen beträgt 12.000 Dollar pro Kopf, ein Drittel von dem der übrigen USA. Die Arbeitslosenrate beläuft sich auf 60 Prozent. Die meisten Jobs bieten die verschiedenen Stammesbehörden an. Dutzende von Indianerstämmen haben sich mit Bingohallen und Kasinos Vermögen erwirtschaftet. Fast die Hälfte der Stämme lebt vom Glücksspiel, das jährlich mehr als 15 Milliarden Dollar für die Kollektivkassen einbringt. Dieses Geld ließ eine indianische mittelständische Wirtschaft entstehen. Die Bingo-Milliarden nutzen einige Stämme auch für heftig ausgetragene Landrechts-Prozesse.

Zu den erfolgreichsten Casino-Betreibern zählen die Oneida. "Das Turning Stone Casino Resort, ein vierstöckiges Ungetüm aus hellgrauen Betonkurven und getöntem Glas, steht zwischen den Maisfeldern und Pinienhainen der Oneida in Reservation in Upstate New York," beschreibt Andrian Kreye den wirtschaftlichen Aufschwung ("Die Indianer Nordamerikas", Geo 4/2000). Die New York Times bezeichnete Ray Halbritter, der gleichzeitig als Vorstandsvorsitzender und "Häuptling" der Oneida Indian Nation füngiert, als den gefährlichsten Indianerkrieger aller Zeiten. Halbritter gelang es innerhalb von nur zehn Jahren, aus dem ärmlichen Reservat ein Erfolgsmodell der Geschäftskunst zu machen.

Für das Geschäft hat sich Halbritter eine Klausel im amerikanischen Grundgesetz zu Nutze gemacht. Diese besagt, dass die Indianerreservate de facto autonomen Status genießen, keine Steuern bezahlen müssen und lokale Bestimmungen, wie zum Beispiel die Freigabe und die Regulierung von Glücksspiellizenzen, selber kontrollieren dürfen. Seit Jahren schon sind bei 40 Prozent der anerkannten Stämme die Bingohallen und Kasinos auf den Reservaten eine der wichtigsten Einkunftsquellen für die Indianerstämme. Außerhalb der Reservate ist das Glücksspiel nur in Atlantic City und dem Bundesstaat Nevada erlaubt. Die Oneida Nation Enterprises, zu denen auch eine Besteckfabrik, ein Verlag, sieben Tankstellen, Einzelhandelsgeschäfte, ein Online-Versandhaus für indianisches Kunsthandwerk und ein Wohnwagenpark gehören, erwirtschaften dreistellige Millionenumsätze. Das Geld gehört allen Mitgliedern des Stammes. Alle Verdienste werden in die Firmen investiert und in Infrastrukturen wie das Alten- und Kinderzentrum und das Public Housing Project - die an noble Vororte erinnern - oder auch in die neue Kläranlage.

Halbritter ist auch ein Provokateur. So schickte er 2,6 Millionen Dollar Zuschussgelder, die seinem Stamm (1.100 Mitglieder) zustanden, an das Bureau of Indian Affairs zurück. Er beauftragte aber auch ein Anwaltsteam mit einer Landrechtsklage. Die Oneida verlangen 100.000 Hektar Land zurück. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren den Oneida von ihrem ursprünglichen Land noch ganze 13 Hektar geblieben. Inzwischen haben Halbritter und die Oneida Nation über 5.000 Hektar zurückgekauft. Die Rechtslage ist eindeutig. Die Landkäufe, die zwischen 1795 und 1846 vom Bundesstaat New York und den Oneida abgewickelt wurden, hätten von der Bundesregierung in Washington genehmigt werden müssen. Das Verfassungsgericht (US Supreme Court) entschied deshalb 1985, dass die Ansprüche der Oneida auf ihre Stammesgebiete und auf Schadensersatz für die 200 Jahre, in denen sie diese nicht nutzen konnten, legitim sind.

Seit Halbritter den sich seit 1970 hinziehenden Prozess mit einem aggressiven Anwaltsteam beschleunigt hat, sind in seinem Landkreis die alten Ressentiments wieder aufgebrochen; diesmal verschärft der Neid auf die neureichen Indianer den Rassismus bis zum Hass. Doch Ray Halbritter denkt nicht daran, einzulenken. Der Jurist verfügt über genügend finanzielle Mittel, um die Klage über Jahre hinweg durchzufechten. "Wir haben es 200 Jahre lang mit der Armut versucht. Es wird Zeit, dass wir mal was anderes ausprobieren." Halbritter ist aber auch ein Despot. Stammesinterne Kasinokritiker haben keine Chance auf politischen Freiraum. Genausowenig Oppositionelle, die die Demokratie bei den Oneida gefährdet sehen. Halbritter weist politische Gegner kurzerhand aus - die Oneida unter der Fuchtel eines autoritären Generals.

In diesen Jahren laufen viele Pachtverträge aus. So liegt ein Großteil der Stadt Syracuse auf einem Gebiet, das den Onondaga zusteht. Die Stadt Salamanca im Bundesstaat New York steht auf dem Stammesgebiet der Seneca und muss jedes Jahr eine dreiviertel Million Dollar Pacht an den Stamm entrichten. Erleichtert werden die Prozesse durch die neue Generation von indianischen Anwälten. Das Indian Law Resource Center, 1979 von dem Bürgerrechtsanwalt Robert Coulter von den Potawatomi gegründet und heute eine gefürchtete Lobbygruppe in Washington D.C., hat sich auf dieses Gebiet spezialisiert. Dutzende indianischer Nationen kämpfen vor Gericht um ihre Rechte oder bereiten sich auf juridische Auseinandersetzungen vor.

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Der International Indian Treaty Council (IITC) ging aus dem militanten American Indian Movement AIM hervor und setzt heute den Kampf in der Bürokratie der internationalen Politik fort. Was 1974 während der legendären AlM-Konferenz in Standing Rock, South Dakota als Splittergruppe begann, ist heute eine international anerkannte Menschenrechtsorganisation, die 98 Eingeborenenvölker vertritt. Ziel des IITC ist es, angesichts der Bedrohung der Kultur und Existenz von weltweit 300 Millionen Ureinwohnern, die Vereinten Nationen dazu zu bringen, eine global gültige Konvention für die Rechte aller Ureinwohner zu verabschieden.

Doch solche Erfolgsgeschichten sind nicht die Norm. Die durch die verschiedenen Red-Power-Gruppen angestoßene kulturelle Renaissance verpuffte in den meisten der Reservaten. Die indianische "Wiedergeburt" hatte keine wirtschaftliche Stabilisierung zur Folge. Die Reservate blieben ländliche Ghettos, Dritte Welt-Enklaven. Deren Bewohner sind meist desillusioniert, leiden unter Alkoholismus, Herzproblemen, Diabetes und anderen physischen und psychischen Krankheiten. Die Arbeitslosigkeit ist äußerst hoch, das Gesundheitswesen schlecht. Letzthin verbesserte sich die Lage nur in jenen Reservaten, in denen mit Casinos Millionenbeträge eingespielt werden. Mehr als 30 Prozent der amerikanischen Ureinwohner leben unter der Armutsgrenze. Doch auch mit den 16.700 Dollar Jahreseinkommen für eine vierköpfige Familie, die als offizielle Armutsgrenze festgelegt wurden, kann man selbst in der billigen amerikanischen Provinz nicht überleben.

Seit der Veröffentlichung der ersten Reporte über die Lage der indianischen US-Bürger in den sechziger Jahren änderte sich wenig. Nur einer kleinen indianischen Mittelschicht gelang der gesellschaftliche Aufstieg. Diese distanzierte sich von ihrem "indianische Erbe" und zeigte wenig Interesse am Weiterkommen der Stämme. Der österreichische Geograf Klaus Frantz kommt in seiner Studie "Die Indianerreservationen in den USA" zum Schluss, dass die Wirtschaftspolitik der US-Regierungen für die Reservate gescheitert ist. Frantz führt dies auch auf eine fehlende mehrsprachige und bikulturelle Bildungspolitik zurück. Die Vergabe von Bergbau- und Erdölförderlizenzen brachte wenig Geld in die Stammeskassen. Auf 17 der 25 bevölkerungsreichsten Reservationen stellt die weiße Bevölkerung bereits die Mehrheit. Die Landnahme geht weiter. Die weißen Nachbarn der Reservate setzen sich auch über garantierte Wasserrechte hinweg. Die Reservationen sind Land-, Wasser- und Rohstoffreserve.

Die amerikanischen Ureinwohner haben auch im 21. Jahrhundert mehr als alle anderen Minderheiten des Landes unter einem institutionalisierten Rassismus zu leiden. Menschenrechtsorganisationen vergleichen den antiindianischen Rassismus mit der Apartheid in Südafrika. Die südafrikanische Apartheid-Regierung, so sagen Kritiker des Reservatssystems, haben die Townships der Schwarzen nach dem Vorbild der amerikanischen Indianerreservate konzipiert. Die gesetzlich garantierte Unabhängigkeit der indianischen Nationen blieb ohne Erfolgsaussichten. Das Land, das den Stämmen zugeteilt wurde, war und ist unter allen Gesichtspunkten minderwertig: isoliert und abgelegen, für die Landwirtschaft meist nicht brauchbar, oft auch verseucht. Akwesasne, die Hauptstadt der Mohawk Nation, liegt beispielsweise am St. James River. Wenige Meilen flussaufwärts steht eine Aluminiumfabrik, die das Wasser und den Boden des Reservats vergiftet. Im Reservat der Navajos wird Kohle über Tage abgebaut, was die Gegend sehr stark belastet.

Die Reservatsregierungen werden nur mit geringen Geldmitteln ausgestattet und bleiben von der Indianerbehörde BIA abhängig. Trotz der "Indianisierung" des BIAs (indianische Angestellte und Direktoren stellen inzwischen die Mehrheit) agiert die Behörde noch immer als Vormund und nicht als Partner der Stämme. Das BIA vertritt die Interessen der Konzerne, die kostengünstig und ohne Umweltauflagen an die Öl-, Gas- und Uranvorkommen herankommen wollen. Im Sumpf des BIA sind in den vergangenen Jahrzehnten mehr als 300 Millionen Dollar versickert. Die fehlende gemeinsame indianische Interessenvertretung ist auch auf die Reservationspolitik zurückzuführen. Im Bereich der Stammespolitik herrscht wenig Gemeinschaftsdenken, jede Reservation handelt für sich und die Rivalitäten sind unübersehbar.

INFOS:

- Indianer-Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Indianer_Nordamerikas
- Leonard Peltier: http://de.wikipedia.org/wiki/Leonard_Peltier
- Indianer: www.indianer.de
- Indianerweb/Radihammer: www.radlhammer.com
- Stammesschulen: www.collegefund.org, www2005.lang.osaka-u.ac.jp/~krkvls/edu.html
- Indian Law Resource Center: www.indianlaw.org
- BIA, Bureau of Indian Affairs: www.bia.gov
- National Geographic: www.nationalgeographic.de/php/magazin/topstories/2004/09/topstory1.htm
- White Earth Land Recoveiy Project: www.nativeharvest.com
- Oneida Nation: www.oneida-nation.net
- International Indian Treaty Council: www.treatycouncil.org
- Die Indianer Nordamerikas, in: Geo 4/2000
- Peter Bolz: Der Ritt nach Wounded Knee - Die Lakota hundert Jahre nach dem Massaker; SOO Jahre danach - zur heutigen Lage der indigenen Völker beider Amerika; von Peter R. Gerber.

Aus pogrom-bedrohte Völker 237 (3/2006).