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Brasiliens: Wirtschaftsprojekte bedrohen unentdeckte Ureinwohner

Die Not der "Unsichtbaren"

Von Rebecca Sommer

Bozen, Göttingen, Dezember 2010

Rebecca Sommer besucht brasilianische Ureinwohner. Foto: Rebecca Sommer. Rebecca Sommer besucht brasilianische Ureinwohner. Foto: Rebecca Sommer.

In Brasilien reiste ich entlang des Xingu-Flusses, um mögliche Auswirkungen des geplanten Megastaudamms Belo Monte zu erforschen. Denn trotz eines enormen internationalen Aufschreis der Öffentlichkeit und noch immer fortwährender Gerichtsverfahren werden derzeit in aller Eile Lizenzen vergeben sowie ernsthafte Bedenken von Experten gegen das Projekt ignoriert. Stattdessen soll der Bau des Damms noch 2010 beginnen. Doch zum jetzigen Zeitpunkt fehlen noch immer einige wichtige Studien über die Umweltverträglichkeit - was insbesondere auch indigene Territorien betrifft - von Belo Monte.

Der Belo-Monte-Damm ist nur einer von hunderten, die die brasilianische Regierung in den nächsten Jahren im Amazonas-Regenwald zur Energiegewinnung errichten will. Als ich das erste Mal eine Karte mit den eingezeichneten Projekten für die hydroelektrische Entwicklung Brasiliens in den Händen hielt, standen mir die Tränen in den Augen.

Das Flusssystem des Amazonas ist das größte weltweit und die Lebensader der "Grünen Lunge" unserer Erde. Hier leben ungezählte Gemeinschaften indigener Völker. Bis heute haben viele von ihnen ihre Lebensweise, Kultur und Sprache bewahrt. Doch sie sind abhängig von den Wäldern, die sie umgeben.

Das Konsortium Norte Energia wird den Damm bauen. Eine der zu diesem Konsortium gehörenden Firmen ist Eletronorte, ein Tochterunternehmen des brasilianischen Energieversorgers Eletrobrás. Diese hat ein Regionalbüro in Altamira. Auch diese Stadt wird teilweise überflutet werden, wenn der Staudamm gebaut ist. Als ich das Büro dort aufsuchte, erfuhr ich weitere Details über die besorgniserregenden Pläne für den Xingu, einem der hauptsächlichen Wasserspender für den Amazonas, der durch die Bundesstaaten Mato Grosso und Para fließt.

In Para, wo Belo Monte gebaut werden soll, bildet der Xingu eine große, hufeisenförmige Schleife ("Big Bend"). Hier leben die Arara und Juruna. Eletronorte will diese Große Schleife jedoch durch einen Kanal an beiden Enden des "Hufeisens" umgehen und so hunderte Meilen des mäandernden Flusses komplett abschneiden. Von der Großen Schleife würde nur noch ein Rinnsal übrig bleiben. Die Arara und Juruna werden plötzlich an einem austrocknenden, unbefahrbaren Flussbett um ihr Überleben kämpfen müssen. Denn einerseits wird ihre Hauptnahrungsquelle, Fisch, verschwinden. Andererseits verlieren sie mit den Wasserwegen ihren Zugang zur Stadt Altamira und anderen am Fluss gelegenen Gemeinschaften.

Bereits seit den 1970er Jahren tauchen immer wieder Berichte über mysteriöse Begegnungen mit unbekannten indigenen Gruppen in diesem Gebiet auf. Niemand weiß, wer sie sind, welche Sprache sie sprechen, wie sie leben oder wie viele sie sind.

In der Nähe der Großen Schleife des Xingu leben auch die Kayapo Xicrin und die Asurini. Letztere sind berühmt für ihre wunderschöne Tonkeramik, die mit natürlichen Farbstoffen verziert und einem glänzenden Harz lackiert ist. Zwischen den Territorien der beiden Völker, in nur etwa 100 Kilometer Entfernung von Belo Monte, streifen nicht-kontaktierte indigene Völker umher. Grenzen für oder um ihr Gebiet gibt es nicht.

Schätzungen zufolge werden für den Bau von Belo Monte rund 100.000 Menschen zusätzlich in die Region kommen. Wahrscheinlich werden viele dieser neuen Siedler auf der Suche nach Lebensraum, Holz oder Rohstoffen in die ungeschützten Gebiete eindringen. Sie können die indigene Bevölkerung mit Krankheiten infizieren, gegen die sie nicht immun ist, und so eine Bedrohung für ihr Überleben werden.

Die brasilianische Regierung ist sich der Existenz isolierter indigener Völker in der Region um den Xingu durchaus bewusst. Fabio Ribeiro, Direktor des Büros der staatlichen Indianerbehörde (FUNAI) in Altamira, versuchte kürzlich zwei Monate lang diese isolierten Gemeinschaften zu lokalisieren. Eine der Bedingungen der FUNAI für den Bau von Belo Monte ist, dass ein Korridor zwischen den Gebieten der Xicrin und Asurini demarkiert und den in freiwilliger Isolation lebenden Gruppen zur Verfügung gestellt wird. Doch obwohl diese Auflage nicht erfüllt ist, werden die Lizenzen zum Bau des Megastaudamms immer schneller vergeben - viele davon verstoßen gar gegen geltendes brasilianisches Recht.

Ende September besuchte ich die Asurini. Sie berichteten mir, dass sie gegen den Bau von Belo Monte seien. Sie sind bereits mehrfach Angehörigen isoliert lebender Völker begegnet und fürchten nun, dass diese - sofern kein Gebiet für sie reserviert wird - in ihr eigenes Territorium gedrängt werden könnten. Dieses müssen die Asurini jedoch schon jetzt gegen Siedler und andere "Eindringlinge" verteidigen.

Eine Begegnung mit einem unbekannten Volk schilderten mir die Asurini besonders ausführlich: Eines Nachts, nach einer erfolgreichen Jagd, lag Apewu Asurini allein in seiner Hängematte tief im Dschungel. Er war fast eingedöst, als er Geräusche hörte. Als erfahrener Jäger erkannte Apewu schnell, dass es menschliche Schritte waren. Er rief in seiner Muttersprache, "Wer ist da?". Niemand antwortete, stattdessen wurde es still. Dann hörte er auf einmal die Rufe vieler Vögel, aus vielen verschiedenen Richtungen. Er bekam Angst. Es musste sich den Geräuschen nach um eine Gruppe mit vielen Leuten handeln, Apewu aber war allein. Das Knacken von Ästen und Rascheln von Blättern begann erneut, überall um ihn herum, als würde er umzingelt werden. Eine Kokosnuss wurde ihm entgegen geschleudert, eine zweite, eine dritte und viele mehr. Unreife Kokosnüsse fallen nicht von den Bäumen, sie müssen gepflückt werden. Apewu schoss mit seiner Waffe in die Luft - und hörte wie Menschen panisch davonrannten. Doch die Stille hielt nicht lange an. Die Schritte näherten sich erneut. Dann hörte er, wie etwas gegen sein Boot klopfte. Jemand schaute sich sein Kanu an. Er hörte Geflüster. Noch einmal schoss er mehrere Male in die Luft, wieder entfernten sich die Schritte fluchtartig. Apewu rannte zu seinem Boot, schoss dabei immer wieder in die Dunkelheit und fuhr davon so schnell er konnte.

Nach der Rückkehr in sein Dorf entschieden Apewu und drei weitere Asurini, zu der Stelle zurückzukehren. Sie fanden viele Fußabdrücke - größer als die von Angehörigen ihres Volkes - im Schlamm und ein Netz von Pfaden, die durch umgeknickte Äste markiert waren. Die Stellen, wo Apewu sein Kanu und seine Hängematte platziert hatte, waren völlig platt getrampelt, als wären viele Personen hier gewesen.

Beim Bau von Belo Monte werden die unbekannten isoliert lebenden Völker die verletzlichsten von allen sein. Wenn um ihr Gebiet keine Grenze zu ihrem Schutz gezogen wird, die ständig bewacht und eingehalten wird, sind sie extrem gefährdet. Diese Völker haben sich dafür entschieden, isoliert zu leben. Die Gesellschaft für bedrohte Völker wird sich deshalb auch in Zukunft insbesondere dafür einsetzen, dass diese Isolation respektiert wird und die für uns "unsichtbaren" Gemeinschaften auch in unserer Welt einen Fürsprecher haben.

Aus pogrom-bedrohte Völker 262-263 (5-6/2010)