9. November 1938 - 2000
Das tödliche Vermächtnis der "Reichskristallnacht", die Südtiroler Bewältigung der Vergangenheit
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Bozen, 8.11.2000

"Ein SS-Unteroffizier kam auf uns zu und befahl: "Männer links raus! Frauen rechts raus!" Vier Worte, ruhig und gleichgültig gesprochen, unbewegt. Vier schlichte, kurze Worte. Für mich zwar der Augenblick, in dem ich meine Mutter verlassen mußte. Ich fand keine Zeit, nachzudenken, als ich schon den Druck der Hand meines Vaters fühlte: wir waren allein, getrennt. Den Bruchteil einer Sekunde lang konnte ich meine Mutter und meine Schwestern nach rechts heraustreten sehen, Tsipora hielt Mamas Hand. Ich sah, wie sie sich entfernten. Meine Mutter streichelte die blonden Haare meiner Schwieter, wie um sie zu beschützen. Ich ging mit meinem Vater, mit den Männern weiter. Ich wußte nicht, daß ich an dieser Stelle, in diesem Augenblick, Mutter und Tsipora für immer verließ".
aus: "Die Nacht zu begraben, Elischa" von Elie Wiesel, Friedensnobelpreis 86

Mit der "Reichskristnallnacht" begann am 9. November 1938 der geplante und industriell durchgeführte nazistische Massenmord an den europäischen Juden. In Innsbruck ermordeten Nazis drei Tiroler Juden, jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden geplündert. Die Südtiroler Nazis konnten erst am 8. September 1943 - nach dem Einmarsch der NS-Wehrmacht - ihren Nordtiroler NS-Brüdern nacheifern. Ein Teil der Süd- und Nordtiroler Geschichte, für die es von offizieller Seite noch immer keine Worte des Bedauerns gibt.

Die Synagoge in MeranEine Chance, mit Südtirols brauner Vergangenheit abzurechnen, hat sich Landeshauptmann Luis Durnwalder vertan. Offensichtlich gilt die landeshauptmännliche Politik des Lächelns und des Dialogs nicht allen Südtirolern. Ausgespart bleiben die Meraner Juden.

Beim Besuch von 60 Journalisten der Auslandspresse in Bozen (Ende September) hat der Landeshauptmann auf eine entsprechende Frage nach Wiedergutmachung von Nazi-Unrecht diese rundweg abgelehnt. Laut Durnwalder kann Südtirol keinen Beitrag zur Rehabilitierung seiner jüdischen Bürger leisten. Dies ist eine Angelegenheit des Staates und nicht des Landes Südtirol.

Auch eine Südtiroler Tradition, unbequeme Aufgaben abzuschieben. Schon 1986 hatte Federico Steinhaus von der jüdischen Kultusgemeinde von Meran in der Kulturzeitschrift "sturzflüge" an diese Praxis der Südtiroler erinnert. Die von den Nazis ermordeten 50 Meraner Juden scheinen nicht in der Südtiroler Opferliste auf, in der Nachkriegszeit hat sich die Landesregierung so benommen, als hätten Fremde das Eigentum der Meraner Juden "arisiert", sie zusammengetrieben und in die Todeslager des Dritten Reichs verschickt. Es gab nie eine Entschädigung, keine moralische Wiedergutmachung, kein Wort der Reue, keine Zeichen der Versöhnung. Südtirol stellt sich gern als Opfer da, als Opfer der italienischen Faschisten und der deutschen Nazis.

Südtiroler - auch Täter
Südtiroler waren Opfer, aber auch Täter. Daran erinnerte der Tiroler Geschichtsverein 1989 mit einer überzeugenden Ausstellung. Im Ausstellungskatalog können Südtirols Geschichtsverdränger nachlesen, was am 8. September 1943 geschah: Mit dem Einmarsch der Wehrmacht des Dritten Reichs begann auch der Leidensweg für Meraner Juden. Der Südtiroler Ordnungsdienst SOD und der SS-Sicherheitsdienst verhaftete Juden, die im KZ von Auschwitz ermordet wurden. Die Wohnungen der Juden wurden von den Nachbarn geplündert, jüdisches Eigentum wurde "arisiert", per Dekret gestohlen.

Keine Entschuldigung
Beschämend ist, daß das offizielle Südtirol bis heute keine Worte des Bedauerns gefunden hat. Südtiroler Nazis haben dafür gesorgt, daß die Meraner Juden "endlöst" wurden. Ein gern vergessener und verdrängter brauner Fleck der Südtiroler Geschichte. Auch deshalb beeilten sich die zuständigen Behörden nach 1945, das sogenannte Durchgangslager in der Bozner Reschenstraße niederzuwalzen. Dieses Lager wurde im Juli 1944 errichtet. "Es handelte sich dabei um die Verlegung des faschistischen Kriegsgefangenenlagers Fossoli, das im Februar 1944 von den Nazis übernommen und infolge des deutschen Rückzugs aus Italien im Sommer nach Bozen transferiert worden waren" (aus "Dableiber und Dagebliebene" - "Option, Heimat, opzioni", Tiroler Geschichtsverein).

Im Bozner KZ befanden sich auch aus rassistischen Gründen Internierte. Juden und Roma. Mehr als 11.000 Häftlinge wurden durch dieses Lager in die Gaskammern geschleust. Keiner und keiner der Südtiroler Lager-Wachen wurde bestraft, weder Hildegard Lechner, die jüdischen Frauen ermordete, noch Karl Gutweniger, der Lager-Insassen quälte. Das Bozner Sondergericht beschäftigte sich zwischen 1945 und 1947 mit 518 Fällen von NS-Kollaboration, Es gab aber nur 63 Urteile, 27 davon waren Freisprüche. Mit Samthandschuhen wurden NS-Verbrecher behandelt. Ein Südtiroler Kapitel, über das sich das offizielle Südtirol ausschweigt.

Italien und seine Vergangenheit
Diese Nichtaufarbeitung der eigenen Verbrechen war in Italien Staatspolitik: Von 259 Todesstrafen, die italienweit verhängt wurden, wurden 168 nicht exekutiert. Von 5.594 Verurteilten wurden 5.328 nachträglich freigesprochen oder amnestiert und begnadigt. 1952 waren aus 20 Jahren Faschismus 266 Schuldige übrig geblieben.

Die UN-Kriegsverbrecherkommission hatte immerhin 1.200 Italiener als Kriegsverbrecher in ihrer Liste angeführt. Sie waren verantwortlich für Massaker in Libyen (zwischen 40 und 80.000 Deportationstote, 20.000 Geflohene auf 800.000 Einwohner), in Äthiopien (zwischen 300 und 730.000 Getötete), in Slowenien (12.000 Ermordete, 40.000 Deportierte).

Der italienische Historiker Rochat klagt das faschistische Italien einer Völkermord-Politik an. Trotzdem ist kein einziger der für die Genozid-Verbrechen in Afrika Verantwortliche je bestraft worden. Die faschistischen Verbrechen Italiens in Afrika und auf dem Balkan werden mit dem Hinweis auf die viel schlimmeren Nazi-Verbrechen abgetan. Auch so kann die eigene rassistische Vergangenheit bewältigt werden - ermöglicht nach 1945 durch eine Mitte-Links-Regierung, die die Aussöhnung suchte und durch die West-Mächte, die kein Interesse an der Verfolgung von faschistischen Kriegsverbrechern zeigten.

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