An den Vizepräsidenten des EU-Ausschusses der Regionen
Landeshauptmann Wendelin Weingartner 
An den Landeshauptmann der autonomen Provinz Bozen/Südtirol 
Luis Durnwalder
EU-Grundrechtecharta. Resolution
GfbV Logo
Bozen/Bolzano,  22.9.2000

Sehr geehrter Herr Landeshauptmann,

wir nehmen ihren Brüssel-Besuch zum Anlass, eine Bitte zu deponieren. Der EU-Konvent hat seine Arbeiten zur EU-Grundrechtecharta abgeschlossen. In dieser 30 Artikel umfassenden Charta (die nur die klassischen Individualrechte enthält) fehlen die Minderheitenrechte.

Die GfbV-international wirbt gemeinsam mit der Fuev, mit der britischen Menschenrechtsorganisation Minority Rights Group, dem European Bureau for lesser used languages und der katalanischen NGO Ciemen für eine Neuverhandlung der Charta.

Am 5. Oktober wollen die genannten Organisationen in Straßburg eine entsprechende Resolution vorlegen. Unsere Bitte - könnten Sie diese Resolution an den Ausschuss der Regionen weiterreichen? Können Sie sich vorstellen, diese Resolution auf der 35. Plenartagung des Ausschusses einzubringen?

Die sprachlichen, ethnischen und nationalen Minderheiten in der EU haben nur dann eine Chance auf Anerkennung und Förderung, wenn der entsprechende Druck auf die EU-Regierungen erhöht wird. Wir wurden uns freuen, wenn Sie uns/den oben genannten, Organisationen, ein stückweit helfen könnten.
 

EU-Grundrechtecharta. Resolution
Die an der Versammlung vom 5. Oktober 2000 in Strassburg vereinigten internationalen nichtstaatlichen  Organisationen, die sich mit dem Menschenrechten im Allgemeinen und mit den Rechten der nationalen Minderheiten im Speziellen beschäftigen, haben folgenden Resolutionstext beschlossen, den sie dem Europäischen Parlament zuleiten.

Wir begrüssen die Erarbeitung und Verabschiedung einer Grundrechtecharta durch die Europäischen Union. Es ist eine weise Entscheidung, die Grundwerte der Europäischen Gemeinschaft in eine politisch wirkungsvolle und rechtlich bindende Form zu bringen.  Mit großer Sorge nehmen wir jedoch zur Kenntnis, dass in den bisherigen Entwürfen des Konvents kein hinreichender Schutz für die sprachlichen, ethnischen und religiösen Minderheiten in Europa vorgesehen ist.  Wir erachten es als absolut notwendig, solche Grundrechte in das Vertragswerk zu integrieren, und dies aus humanitären und kulturellen, sowie aus rechtlichen und politischen Gründen.

In Bezug auf die rechtliche Frage verweisen wir auf die verschiedenen Eingaben, insbes. jedoch auf die Eingabe an den EU Konvent durch das International Institute for Right of Nationality and Regionality, der wir uneingeschränkt zustimmen können. Wir unterstützen ebenfalls den im erwähnten Papier gemachten konkreten Vorschlag.

Im Folgenden möchten wir uns auf einige grundlegende Hinweise beschränken.

Die Sprachen- und Kulturvielfalt gehört zum europäischen Erbe und macht den kulturellen und geistigen Reichtum unseres Kontinentes aus. Diese Vielfalt gilt es zu bewahren; dies ist nur möglich durch die Anerkennung, einen verstärkten Schutz und die Förderung der alteingesessenen Sprachgemeinschaften und nationalen Minderheiten.

Es ist in der Geschichte der Staaten Europas des 20. Jahrhunderts nicht gelungen, den nationalen Minderheiten sowie den Gemeinschaften kleiner und bedrohter Sprachen die für ihren Fortbestand notwendigen, politischen, rechtlichen und praktischen Grundlagen zu gewähren. Im Gegenteil: Die Staatenbildung auf der – ideologischen, weil in kaum einem Staat umsetzbaren – Grundlage der ethnischen Homogenität führte dazu, dass man die Frage der nationalen Minderheiten durch Assimilation und Gewaltanwendung zu lösen versuchte. Selbst in den demokratischen Rechtsstaaten Europas konnten die Fragen einer friedlichen Koexistenz von Mehrheitsbevölkerung und nationalen Minderheiten nicht überall zur Zufriedenheit gelöst werden. Diese Konflikte gipfelten in den Angriffskriegen, Völkermorden und Vertreibungsverbrechen faschistisch-nationalsozialistischer und kommunistischer Diktaturen, von denen 40 bis 60 Millionen Menschen betroffen waren. Seit dem Ende der Sowjetunion und dem Zerfall des alten Jugoslawien wurden diese Konflikte in zunehmendem Masse als Bürgerkriege ausgetragen, deren Opfer vor allem Zivilpersonen waren und bis heute sind. Deshalb gehört die friedliche Lösung von Minderheitenfragen wesentlich zum Sicherheitsdispositiv Europas.

Grundrechte wie das Recht auf Heimat, Sprache und Kultur können weder dem Einzelnen noch einer kollektiven Gemeinschaft verwehrt werden. Es ist daran zu erinnern, dass etwa 14% der Bevölkerung Europas sich aus Bürgern zusammensetzt, die nicht der offiziellen sprachlichen und kulturellen Gemeinschaft  des jeweiligen Staatsvolkes angehören. Die Rechte auf das Erlernen, den freien und öffentlichen Gebrauchs der eigenen Sprache sowie auf den Zugang zu den Medien und kulturelle Identitätsfindung müssen allen Bürgern Europas, sowohl individuell und als auch kollektiv, gestanden werden. Bis heute jedoch werden diese Rechte in ihren Ländern bzw. auf europäischer Ebene meist nur in unzureichender Weise beachtet. Wie die 1996 von der EU-Kommission selbst veröffentlichte Studie „EUROMOSAIC“ belegt, sind fast die Hälfte von 46 europäischen Minderheitensprachen vom Untergang bedroht. In einigen Mitgliedstaaten der EU wird das Gebot der Gleichbehandlung gegenüber den Angehörigen sprachlicher, ethnischer und nationaler Minderheiten verletzt.

Erst in den 90er Jahren wurde von den internationalen Institutionen Europas das Bedürfnis nach politischen und rechtlich bindenden Standards zum Schutz der alteingesessenen Sprachgemeinschaften und der nationalen Minderheiten erkannt und in zaghaften Schritten umgesetzt. Diese international anerkannten Minimalstandards sollten auch in die Verträge der Europäischen Union Eingang finden. Wir begrüßen es deshalb ausdrücklich, dass in dem Entwurf für die Grundrechtecharta, den der Konvent am 28.7.2000 vorgelegt hat, mit Artikel 21 ein Verbot jeglicher Art von Diskriminierung enthält. Dagegen vermissen wir Regelungen, die es den EU-Institutionen auferlegen, die Chancengleichheit der Angehörigen von alteingesessenen sprachlichen, ethnischen und nationalen Minderheiten sicherzustellen. Deshalb fordern wir für diese Gruppen eine „affirmative action“ wie sie im vorliegenden Entwurf der Grundrechtecharta (Art. 22-24) bereits für die Gleichstellung von Mann und Frau, den Schutz des Kindes und die Integration von Behinderten vorgesehen ist.

Abschließend warnen wir vor jedem Versuch, den Geltungsbereich der Grundrechte einzuschränken oder die Charta zu einer unverbindlichen Erklärung zu degradieren. Dadurch würde nicht nur die Idee einer europäischen „Bill of Rights“ zerstört, vielmehr erlitte auch die internationale Entwicklung der Menschenrechte einen schweren Rückschlag. In der Schlusserklärung ihres Gipfeltreffens in Kopenhagen 1993 hatten die damaligen EG-Mitglieder ihre Bereitschaft zur Aufnahme neuer Staaten von der Einführung einer Minderheitenschutzbestimmung in deren Verfassungen abhängig gemacht. Damit wird die Aufnahme eines solchen Rechtes in die Grundrechtecharta zu einer Frage der Glaubwürdigkeit!
 

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