Offener Brief
an die
Abgeordneten und Fraktionen
des Südtiroler Landtages
Setzt euch für die Flüchtlingsbetreuung ein!
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Bozen, den 6. Oktober 1999

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,

als Menschenrechtsorganisation richten wir einen dringenden Appell an Sie, sich endlich für Flüchtlingsunterkünfte in unserem Land zu engagieren und die entsprechenden politischen, finanziellen und personellen Maßnahmen im Südtiroler Landtag einzuleiten und rasch zu genehmigen.

Es ist vollkommen unverständlich, daß ein reiches Land wie Südtirol Flüchtlingen keine Unterkunft bietet und sie dem Zufall bzw. dem Idealismus von Freiwillingen-Organisationen überläßt. Fast schon wöchentlich stranden in Bozen oder an den Grenzübergängen Menschen auf der Flucht. Laut Strafgesetzbuch sind es "Illegale", weil sie keine gültigen Reisedokumente oder Aufenthaltsgenehmigungen haben; entsprechend werden diese Menschen oft wie Straftäter behandelt. Vor einigen Jahren waren diese "Illegalen" zumeist Bosnier, es folgten Kosovaris, jetzt sind es Ashkali und Roma aus Kosova, die von ihren albanischen Landsleuten vertrieben werden. Die Kurden gehören seit eh und je zum festen Bestandteil von Flüchtlingstragödien.

Ob politisch verfolgte Kurden aus der Türkei (siehe Dokumentation der GfbV: "Völkermord an den Kurden") oder wegen des Bürgerkrieges in Sri Lanka geflohene Tamilen, ob Sahrauis, Bosnier (siehe mehrere Flüchtlingsdokumentationen der GfbV), die nicht in ihre von Serben besetzten Heimatdörfer zurückkehren können, Serben (siehe GfbV-Dokumentation "Kroatiens Apartheid-Politik"), die nicht in ihre von Kroaten und albanischen Kosovaris besetzten Heimatdörfer zurückkehren können, Askahli und Roma aus Kosova (siehe Report der GfbV: "Bis der letzte 'Zigeuner' vertrieben ist"), die von albanischen Extremisten vertrieben wurden (weitere Informationen sind über unsere Web-Sites abrufbar: www.ines.org/apm-gfbv und www.gfbv.de): Südtirol kann und muß seinen Beitrag zur Linderung des Welt-Flüchtlingsproblems leisten. Ein solidarisches Südtirol setzt sich ein für die Aufnahme von politisch Verfolgten und von Kriegsflüchtlingen, aber auch für die Beseitigung der Fluchtursachen.

Allein in den vergangenen zwei Wochen hat die Bahnpolizei in Bozen mehr als 300 Kurden an der Weiterreise nach Deutschland gehindert. In der vergangenen Woche hat sich am Bozner Bahnhof eine Flüchtlingstragödie abgespielt, die unserem Land und seiner politischen Klasse ein schlechtes Zeugnis ausstellt. Die Bahnpolizei stoppte kurdische Flüchtlinge, die von Bari aus nach Deutschland und Holland zu gelangen versuchten. Ein Teil der Flüchtlinge war in Güterwaggons versteckt. Die Bahnpolizei ließ die Flüchtlinge auf dem Bahnhofsgelände übernachten, wo sie versorgt wurden, um dann wieder nach Bari zurückgeschickt zu werden. Wenige Tage später wurden zahlreiche kurdische Flüchtlinge aus einem Reisezug geholt. Die Hälfte davon fand Unterkunft bei den Patres in Muri Gries, ein weiterer Teil war gezwungen, im Bahnhofspark zu übernachten. Mitarbeiter der Caritas und des Vereins "volontarius" verpflegten die Flüchtlinge. Wie in allen Fällen gehört die Abwesenheit der öffentlichen Verwaltung zu den blamablen Details dieser Flüchtlingstragödien. Ohne die Hilfe der Freiwilligen und der Menschlichkeit der Bahnpolizisten wären die Flüchtlinge vollkommen sich selbst überlassen.

Die Herkunft der Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten ist ein Beleg dafür, daß diese Menschen vor dem Terror flüchten bzw. vom Terror vertrieben werden. Wenn in unserem Land Krieg herrschte, würden Sie dann den Leuten die Flucht untersagen wollen, oder möchten Sie, daß sie so behandelt werden wie die Flüchtlinge hierzulande? Seit nunmehr einem Jahrzehnt wird Südtirol mit dem Flüchtlingselend konfrontiert. 1990 wurden fast über Nacht vom Staat 200 Albaner in einer Kaserne in Welsberg untergebracht. Staatliche Behörden in Zusammenarbeit mit dem Land und Freiwilligen-Organisationen betreuten die Albaner. Südtirol hat zwar keine Kompetenzen bei der Asylgewährung und bei der permanenten Aufnahme von Flüchtlingen, da diese Kompetenz bei den staatlichen Behörden liegt. Sehr wohl aber hat Südtirol die Möglichkeit und die moralische Verpflichtung, die Flüchtlinge zu betreuen, die der Staat auf dem Gebiet der Provinz unterbringt oder die auf ihren Irrfahrten auf der Suche nach einer erträglichen Existenz in unserem Land stranden. In besonderen Fällen, wie etwa in der ersten und zweiten Welle von albanischen Flüchtlingen, der Aufnahme der Kriegsflüchtlinge aus Kroatien und Bosnien-Herzegowina und schließlich der mazedonischen Roma, wies die italienische Regierung jeweils mehrere Hundert Flüchtlinge dem Land zur Aufnahme und Betreuung zu. Zahlreiche De-Facto-Flüchtlinge außerhalb dieser Gruppen kamen in den Jahren der Jugoslawien-Krise noch hinzu. Südtirol hat in diesen Fällen gezeigt, daß es sowohl in der Betreuung als auch in der Integration dieser Flüchtlinge durchaus in der Lage ist, einen wertvollen Beitrag zu leisten. Heute leben und arbeiten hunderte von ehemaligen Flüchtlingen in Südtirol, die dank nachträglicher "Legalisierungen" (sanatoria) längerfristige Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen erhalten konnten. Viele dieser Flüchtlinge sind wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, die meisten der Verbliebenen haben sich integriert.

Obwohl in Südtirol als Grenzgebiet jeder Jahr Tausende von Flüchtlingen ankommen, gibt es hier noch immer keine Einrichtung, die diesen vorübergehend Aufnahme und Betreung bietet (solche Strukturen sind in vielen Ländern Europas Standard). Die Forderung der Gesellschaft für bedrohte Völker und anderer Organisationen, Unterkunftstätten für die Flüchtlinge einzurichten, wurde von der Politik überhört, die Forderung nach einem Flüchtlingsbeauftragten wurde zurückgewiesen. Die Gesellschaft für bedrohte Völker erwartet sich, daß die Fraktionen und ihre Landtagsabgeordneten jene Politik der christlichen Werte in die Tat umsetzen, die sie so oft beschwören. Angesichts der reich ausgestatteten öffentlichen Haushalte, angesichts auch der Hilfe, die Südtirol in Jahren der Not aus dem Ausland erhalten hat, wäre unser Land dazu verpflichtet, für politisch  Verfolgte, Asylberechtigte und Flüchtlinge viel mehr zu tun. Südtiroler waren Flüchtlinge, Südtiroler haben Menschen, die Meraner Juden, zu Flüchtlingen gemacht, in Südtirol fanden Vertriebene aus Istrien eine neue Heimat, genauso wie letzthin Kurden, Bosnier, Kosovaris.

Das Schicksal dieser Menschen darf uns nicht gleichgültig sein. Deshalb bitten wir Sie, sich für eine Flüchtlingsunterkunft in Bozen und für Aufnahmezentren mit angegliederten Beratungsstellen für Flüchtlinge an den drei wichtigsten wichtigsten Grenzübergängen Südtirol zu engagieren. Nichtstun in einem Land, das sich christlichen Werten verpflichtet fühlt und seinen  Bürgern eine relativen Wohlstand garantiert, bedeutet Menschen auf der Flucht die arrogante kalte Schulter zeigen.
In Erwartung einer positiven Entwicklung.
 

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