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Auf keinem Auge blind

Für Menschenrechte, ohne ideologische Scheuklappen

Von Tilman Zülch

Bozen, Göttingen, 10. September 2003

Leitlinie der Menschenrechtsarbeit der GfbV: das Überleben von Menschen. Und zwar nicht nur das Überleben von Henkern, Mördern und Vergewaltigern. Wenn, wie in Bosnien, 250 000 zivile Häftlinge in Lagern vegetierten, galt es diese zu retten, damit sie nicht ermordet wurden. Mehrere 10 000 haben dieses Schicksal ganz nah an den deutschen Städten, Wien und München, erdulden müssen. Sie sind nicht mehr am Leben. In einer solchen Situation ist es völlig irrelevant, ob irgendeine Regierung des Westens 5 oder 10 Jahre vorher nicht gehandelt hat und deshalb diese Lage entstand.

Für die Opfer ist auch nicht wichtig, ob die Motive von Rettern, wenn sie denn aktiv werden, ehrenwert sind. Die Motivation von Briten und Amerikanern im 2. Weltkrieg war wohl kaum die Rettung der Juden, sondern der Generalangriff auf das existierende Staatensystem und damit die Sicherheit bzw. die Großmachtstellung der angelsächsischen Länder. Wie wenig Appelle an deren Politiker wirkten, wissen wir von zahlreichen jüdischen Überlebenden unter anderem von unserem Vorbild Viktor Gollancz, nach dem der GfbV-Menschenrechtspreis benannt ist.

Als im heutigen Bangladesch, im ehemaligen Ost- Pakistan, 2 Millionen Menschen ermordet worden waren, 25 Millionen Flüchtlinge oder Vertriebene im In- und Ausland dahinvegetierten und eine Hungersnot viele Menschen vernichtet hatte, befreite die indische Armee Ostbengalen. Die indische Motivation war sicherlich die Zerschlagung Pakistans (1971). Wir haben uns damals auch humanitär engagiert, diese Intervention aus vollem Herzen begrüßt, auch wenn vorher China die USA und West- Deutschland Pakistan unterstützt und an der Krise insofern Mitschuld hatten.

Als der steinzeitkommunistische Präsident Kambodschas Pol Pot Völkermord an 2 Millionen seiner Untertanen verübte, beendete die Intervention der Armee der kommunistischen Vietnams den Genozid. Sicher wollte Vietnam Kambodscha dominieren, aber trotz vieler Verbrechens des vietnamesischen Regimes hat es die totale Ausrottung der Bevölkerung des Nachbarlandes nicht als sozialistisch angesehen. Also gab es auch eine humanitäre Erwägung.

Niemand wird die Linke daran hindern, rechtzeitig konfliktvorbeugend zu handeln. Ich habe aber erlebt, dass große Teile der deutschen Linken entweder in Kaffeehäusern politisierten und, wenn der Stein in den Brunnen gefallen war, dann denen, die er traf, also den Bosniern, Kosovo- Albanern und irakischen Kurden, die Hilfe versagten.

Ein großer Teil der deutschen Linken, Grünen und Spätpazifisten unter der Führung con C. Ströbele hat 15 oder 25 Millionen DM für die marxistisch-leninistische Befreiungsbewegung Salvadors gesammelt, um diese so zu bewaffnen, dass der Bürgerkrieg lang und endlos dauerte. Die Zahl der Opfer dieser grünen TAZ-Initiative kann ich nicht mehr benennen.

Als die USA Nicaragua militärisch bedrohten, gab es eine gewaltige Solidaritätsbewegung. Als Nicaraguas sandinistische Regierung die Miskito-Indianer mit Aggressionen, einzelnen Massakern und Massenvertreibung überzog, schwieg die Linke. Als die GfbV diese Verbrechen veröffentlichte, ernteten wir harte Vorwürfe. Als die bosnischen Muslime um ihr Leben rannten, als erstmals seit dem 2. Weltkrieg wieder eine nichtchristliche Minderheit verfolgt und vernichtet wurde, als in Bosnien Städte wie Sarajewo vier Jahre lang täglich bombardiert wurden, wandten sich die meisten Linken gegen eine Intervention und sprachen sich für ein Waffenembargo aus. Europas zweitgrößte Armee konnte darüber lachen. Das Embargo traf die Ghettobewohner.

Als Saddam Hussein und AI-Bakr gemeinsam mit dem iranischen Schah dank einer bösartigen Aktion Kissingers die kurdische Bewegung im Irak unter Mustafa Barzani zerschlug und zehntausende Kurden starben, begrüßte die DKP-nahe, damals dominierende Linke, die Niederlage der "reaktionären" Kurden (1975).

Als Bush Senior nach dem ersten Golfkrieg Saddam Hussein rettete und den Kurden und Schiiten nicht zu Hilfe eilte, nachdem er sie zum Aufstand ermuntert hatte, und als Hunderttausende starben, handelte die damals Millionen zählende Friedensbewegung wie der US-Präsident. Mehrere Hunderttausend Schiiten verschwanden.

Zehntausende unter den 2 Millionen kurdischen Flüchtlingen aus dem Irak starben, aber die Friedensbewegung in ihrer großen Mehrheit stellte die Demonstrationen ein. Der Henker von Bagdad war tabu. Die fortschrittlichen Lehrer gingen mit ihren Schulklassen wieder in den Unterricht, die progressiven Priester bliesen ihre Protestkerzen aus.

Man könnte das in unendlicher Folge fortsetzen, genauso wie die Waffenlieferungen, die Unterstützung der Diktaturen und Kriegsverbrechern durch die Mehrheit der Konservativen. Wer die Position auf keinem Auge blind nicht durchhält, wer sich von einseitigen Linken die Linie vorgeben lässt, der hat es in der GfbV dann mit einer schwierigen Situation zu tun.

Für mich gilt politische Moral, Humanität, und das Überleben der Opfer als Leitlinie; nicht die Frage, ob andere mein Handeln jeweils als links oder rechts einordnen. Im übrigen sind beide Positionen, wenn sie nicht links- oder rechtsradikal bedeuten, legitim.

Die Rechte muss mit vielen Verbrechen des Kolonialismus, des Imperialismus und des Faschismus leben und Wiederholungen vermeiden. Die Linke ist mit dem Berg der 100 Millionen Opfer des Kommunismus konfrontiert.

Es gibt aber trotz alledem unzählige konsequente und politisch kluge Linke, für die jeder Genozid Genozid ist, wie der Vorsitzende der Grünen Fraktion im Europaparlament Daniel Cohn-Bendit oder Marek Edelmann, letzter Überlebender des jüdischen Warschauer Ghetto-Aufstandes.

Das Vermächtnis der Opfer von gestern
Einsatz für die Opfer von heute - Völkermord 40 Jahre nach Auschwitz Vergangenheitsbewältigung heißt Verantwortung heute Gedenkfeier der GfbV in Hamburg am 28/29. Juni 1985

Nach Berechnungen des us-amerikanischen Friedensforschers Kende vom Brooking-lnstitut in Washington wurden zwischen 1945 und 1980 in 127 Kriegen und Konflikten mindestens 32 Millionen Menschen getötet. Die Zahl der Getöteten, ganz überwiegend Zivilisten Opfer von Völkermord, Massenmord und Kriegsverbrechen, scheint eher auf zurückhaltenden vorsichtigen Schätzungen zu beruhen.

In der ersten Hälfte der achtziger Jahre hat sich die Reihe der Kriege, Bürgerkriege und Völkermorde fortgesetzt. In Afghanistan wird die Zahl der Opfer der sowjetischen Okkupation inzwischen mehrere Hunderttausend - überwiegend Zivilisten - erreicht haben, in Osttimor wurde seit 1975 etwa ein Drittel der 750.000 Einwohner von der indonesischen Armee mit Förderung und Duldung der Staaten des Westens - unter ihnen die Bundesrepublik - vernichtet. Der irakisch-iranische Konflikt hat sich über die Jahre hinweg zu einem grauenhaften Stellungskrieg nach dem Muster von Verdun entwickelt.

UN-Konvention gegen Genozid
Unter dem Eindruck des größten systematischen Völkermordes des 20. Jahrhunderts, der Ausrottung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische "Groß-Deutschland", wurde 1948 die Konvention der Vereinten Nationen gegen Völkermord endgültig verabschiedet. Die UNO honorierte somit auch den beispielhaften "Ein-Mann-Kreuzzug" des amerikanischen Journalisten Richard Lemkin, der sich bereits 1933 für eine derartige internationale Konvention gegen Massenmord eingesetzt hatte. Den Begriff Genozid (Völkermord) schuf er jedoch erst 1944 unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Verbrechen (nach dem altgriechischen Wort Genos = Geschlecht, Stamm und dem lateinischen caedere = töten).

Vierzig Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft müssen wir heute feststellen, daß die Absicht mindestens eines Teiles der internationalen Staatengemeinschaft, mit der UN-Konvention gegen Völkermord von 1948 für die Zukunft Konsequenzen aus den Massenmorden des Dritten Reiches zu ziehen, gescheitert ist. Man hat weder Völker- und Massenmorde verhindern können oder wollen, noch die für derartige Verbrechen Verantwortlichen vor Gericht stellen können.

Auch sind die Regierungen der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen nicht willens, Institutionen zu schaffen, die in "interne Angelegenheiten souveräner Staaten" (wie Kriegs- und Völkermordverbrechen von verantwortlichen Regierungen in der Regel bezeichnet werden) einzugreifen, berechtigt sind.

Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal
Das vergessene Vorbild

Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, die weltweit nicht nur als Rechtsprechung der Siegermächte über ein extrem verbrecherisches System verstanden, sondern zunächst auch als Wegweiser betrachtet wurden, in der Zukunft Angriffskriege, Völkermord, Sklavenarbeit und Massendeportationen als Verbrechen zu verurteilen und zu bekämpfen, hätten als Modell der Bestrafung zukünftiger Verbrechen gegen die Menschlichkeit dienen müssen, auch wenn in Nürnberg nach Gesetzen geurteilt wurde, die zum Teil erst nachträglich und zu diesem Zweck geschaffen worden waren (Verurteilung des Angriffskrieges) und die Urteile von Militärtribunalen gefällt wurden.

Die ersten Verhandlungen über die Einrichtung eines Kriegsverbrechertribunals wurden von den vier Siegermächten bei der Konferenz von San Francisco geführt, auf deren Schlusssitzung 50 Staaten die Verfassungsurkunde der Vereinten Nationen unterzeichneten. Die Gründung der Vereinten Nationen und die Bildung des Nürnberger Militärgerichtshofes sollten zwei gleichgerichteten Zielen dienen: der Erreichung einer zukünftig friedlichen Lösung internationaler Streitfragen und der Förderung humanitärer Staatspolitik.

Leider hatten die Nürnberger Prozesse genausowenig Konsequenzen wie die UN-Genozid-Konvention. "Irgendwie haben wir es versäumt, die Lektionen, die wir in Nürnberg gelehrt haben, selber zu lernen. Das ist heute Amerikas Tragödie", schrieb der ehemalige Chefankläger der Vereinigten Staaten bei den Nürnberger Prozessen, Telford Taylor, 1970 in seinem Buch "Nürnberg und Vietnam" entsetzt über die Kriegsverbrechen der amerikanischen Armee.

Taylors Feststellung kann ohne weiteres für alle jene Regierungen verallgemeinert werden, die seither an Kriegsverbrechen und Massenmorden beteiligt waren oder noch beteiligt sind, und sie müsste auch für Regierungen gelten, die verbrecherischen Regimes in der Dritten Welt mit Waffenlieferungen, Wirtschaftshilfe oder politischer Unterstützung den Rücken freihalten.

Stalin torpedierte Genozid-Konvention
Allerdings muss bezweifelt werden, ob die Alliierten 1945/46 über den Konsens hinaus, die nationalsozialistischen Kriegsverbrecher zu bestrafen, überhaupt die Bestrafung künftiger Kriegsverbrechen im Sinn hatten, denn dazu hätte auch der Wille gehören müssen, im eigenen Herrschaftsbereich keine schweren Menschenrechtsverletzungen mehr zuzulassen.

Ein Viertel der Nürnberger Richter stellte das Regime Stalins, das seit Beginn der dreißiger Jahre bis 1953, auch durch die Kriegsjahre ununterbrochen, mit der Vernichtung von mehreren zehn Millionen eigenen Bürgern befasst war, die wegen ihrer Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, politischen Organisationen oder ethnischen Gemeinschaften vernichtet wurden.

Insofern erscheint es logisch, dass die Regierung der UdSSR zwischen 1946 und 1948 im Vorfeld der Verhandlungen um die UN-Anti-Genozid-Konvention erfolgreich durchsetzte, die physische Eliminierung politischer und sozialer Gemeinschaften, den sogenannten Sozialschichtenmord, nicht in den Text der Konvention aufzunehmen, worauf andere Regierungen bestanden hatten.

"Die Verratenen von Jalta"
Die Auslieferung von über zwei Millionen sowjetischen Bürgern nach Kriegsende sowie von zahlreichen zaristischen Emigranten nichtsowjetischer Staatsbürgerschaft an die UdSSR durch die britische Regierung, ließ sich ebenfalls nicht mit einer neuen "humanitären Staatspolitik" vereinbaren, zumal unzählige der Betroffenen, unter ihnen auch Frauen und Kinder, entweder Selbstmord verübten, oder britischen Bajonetten zum Opfer fielen, als sie sich gegen ihre Auslieferung sträubten.

Der britische Historiker Nikolai Tolstoi, Großneffe des großen russischen Dichters Leo Tolstoi, hat Mitte der siebziger Jahre eine leidenschaftliche Diskussion in Großbritannien ausgelöst, als er dieses verschwiegene Kapitel britischer Geschichte mit seinem Werk "Die Verratenen von Jalta - Englands Schuld vor der Geschichte" aufrollte.

Tolstoi wies nach, dass die britische Regierung trotz des auch damals bekannten Charakters des stalinistischen Regimes diese etwa zwei Millionen Menschen bewusst der Hinrichtung, der Folter und dem Archipel Gulag auslieferte, in dem Hunderttausende von ihnen zugrunde gingen.

Auch die im Potsdamer Abkommen von den Alliierten festgelegte Vertreibung von etwa achtzehn Millionen Deutschen aus Ostdeutschland, dem Sudetenland und den deutschen Siedlungsgebieten Osteuropas, die zwei bis drei Millionen von ihnen nicht überlebten, gehört ebenfalls zu den Kapiteln menschlichen Leidens der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Albert Schweitzer erklärte anlässlich seiner Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises, dass man sich "überhaupt gegen jedes menschliche Recht" verginge, "wenn man Völkerschaften das Recht auf das Land, das sie bewohnen, in der Art nimmt, dass man sie zwingt, sich anderswo anzusiedeln." Die Siegermächte, so Schweitzer, seien der ihnen gestellten Aufgabe einer gedeihlichen und einigermaßen gerechten Neuordnung der Dinge nicht gerecht geworden.

Robert Jungk sah Ende 1945 durch die Brutalität gegenüber den Ostdeutschen den Geist des Widerstandes gegen Hitler verraten, Golo Mann zitierte den britischen "Economist":
"Die Sieger haben den Krieg gegen Hitler mit einem Frieden im Stil Hitlers beendet".

Mild gegen Nazis - hart gegen die Ostdeutschen
Mit Argumenten der Rache und der Kollektivschuld werden Vertreibung und Vertreibungsverbrechen in der Regel entschuldigt oder beschönigt. Doch welchen Sinn sollten die streng nach rechtsstaatlichen Prinzipien abgehaltenen Nürnberger Prozesse eigentlich haben, wo man teilweise führende Nationalsozialisten freisprach oder zu außerordentlich milden Strafen verurteilte, wenn man gleichzeitig Millionen unschuldiger Ostdeutscher - unter ihnen Tausende von Hitlergegnern - durch die verordnete Vertreibung zum Tode verurteilte?

"Wieviel glaubwürdiger wäre der Sieg in diesem Sinne zu feiern als Sieg der Moral und Humanität gegen den Okkupanten von außen und innen. Es wäre ein Sieg gewesen gegen die Unmenschlichkeit und ein Beispiel, wie Unmenschlichkeit in diesem Ausmaß misslingen muß" (Hans-Jürgen Syberberg).

Revanche und Kolonialkrieg
Im während der nazideutschen Besetzung zutiefst gespaltenen Frankreich - gespalten zwischen den Anhängern der Kollaboration unter Petain und dem Widerstand im Lande und im Exil - kam es nach der Befreiung zu ungezählten Morden an angeblichen und wirklichen Kollaborateuren, nicht selten begangen von Tätern, die der Resistance keineswegs nahestanden und deren antifaschistischer Kampfgeist sich erst nach der Niederlage des Faschismus entwickelt hatte. Die Gesamtzahl der ermordeten Opfer wurde aus verständlichen Gründen zwar nie festgestellt, 150.000 aber als realistische Schätzung betrachtet.

Nach Kriegsende stand das neue Frankreich vor dem Problem, seine Autorität in den überseeischen Kolonien wiederherstellen zu müssen. Es verwundert nicht, dass man mit der farbigen Welt nicht sanfter umsprang als mit den eigenen Landsleuten. Demonstrationen im algerischen Setif führten im Mai 1948 zu blindwütigem Zurückschlagen der französischen Armee, eine Regierungskommission unter General Tubert ermittelt 15.000 Tote, genauere Erhebungen ergeben später 45.000 Opfer.

In Madagaskar wird ein Aufstand gegen die von der französischen Kolonialmacht praktizierte Zwangsarbeit mit drakonischen Mitteln niedergeschlagen. Gert von Paczensky schreibt:
"Ein General erklärt drei französischen Parlamentariern, die vom Parlament der 'Französischen Union' auf eine Erkundungsreise nach Madagaskar geschickt worden sind, der Vergeltung der Franzosen seien 89.000 Menschen zum Opfer gefallen. Man geht nicht fehl, wenn man die Zahl der Madegassen, die dem französischen 'Gegenterror' zum Opfer gefallen sind, auf mindestens 100.000 veranschlagt."

In Vietnam fordert die französische Bombardierung Hanois - wo Ho Tschi Minh die Unabhängigkeit des Landes erklärt hatte, Zehntausende von Todesopfern.

"Ich kam schließlich nicht nach Indochina, um Indochina den Indochinesen zurückzugeben," erklärte General Jean Ledere im September 1945 den von Frankreich begonnenen Kolonialkrieg, der, von den Amerikanern fortgesetzt, bis 1975 andauerte.

1945 - ein halber Aufbruch
Diese von den alliierten Mächten tolerierten oder zu verantwortenden Menschenrechtsverletzungen forderten in den ersten Nachkriegsjahren in Europa und in Übersee noch einmal Millionen Menschenleben. Schon vor Kriegsende waren in Dresden, Hiroshima und Nagasaki Methoden der Kriegsführung angewandt worden, bei denen nur noch Barbarei gegenüber der Zivilbevölkerung, keine befreiende Absicht mehr zu erkennen war.

Die Anti-Hitler-Koalition war als Defensiv-Bündnis gegen Hitlers extrem-imperialistischen, rassistischen Raub- und Ausrottungskrieg zustandegekommen. Nach dem Sieg über die Nazis sollte trotz Nürnberg und Gründung der Vereinten Nationen kein neues Zeitalter der Verwirklichung der Menschenrechte eingeläutet werden.

Dennoch trug das Entsetzen über die nationalsozialistischen Vernichtungslager, über den ersten perfekten industriell-technischen Völkermord, in der Öffentlichkeit vieler Länder zur Entstehung eines neuen politischen Bewusstseins und einer internationalen Solidarität vor allem für Menschen und Volksgruppen bei, die wegen ihrer ethnischen, rassischen und religiösen Zugehörigkeit verfolgt wurden und werden.

Auch wenn Parallelen zu den Verbrechen des Nationalsozialismus von allen Regimes, die genozidartige Akte begehen, und deren jeweiligen Alliierten regelmäßig zurückgewiesen werden, auch wenn manche überlebende Opfer von Auschwitz oder Bergen-Belsen davor warnen, andere Massenmorde oder Genozide mit dem Holocaust oder anderen Naziverbrechen zu vergleichen, könnten Menschenrechtler zu Recht immer wieder darauf verweisen, dass auch im Dritten Reich dem Völkermord Inhaftierungen, Folterungen und Pogrome vorausgingen, gegen die aus den demokratischen Staaten des Westens kaum Proteste zu hören waren, und dass die Verfolgung von Juden und Sinti zwischen 1933 und 1939 international vorwiegend als innere Angelegenheit Deutschlands abgetan wurde.

Aufschrei gegen Krieg - Russell-Tribunal
Protestbewegungen vornehmlich von Studenten und Intellektuellen in den westlichen Ländern begleiteten die vergeblichen Versuche verschiedener Kolonialmächte in den 50, 60er und 70er Jahren in Algerien, Angola, Mozambique oder Vietnam die Entkolonisierung auch um den Preis von Massenmorden an der einheimischen Bevölkerung aufzuhalten. Die Kundgebungen und Demonstrationen für Vietnam und Algerien haben den amerikanischen bzw. französischen Rückzug zumindest beschleunigt.

Internationale Institutionen wie das Russell-Tribunal oder das Tribunal der Völker haben sich auf die Tradition der Nürnberger Prozesse und auf das Versagen der Vereinten Nationen berufen, wenn sie Verbrechen des Völkermordes in Vietnam, an den Indianern oder den Armeniern, in Osttimor, Eritrea oder Afghanistan untersuchten und verurteilten.

Entkolonialisierung statt Befreiung
Die nahezu abgeschlossene Entkolonisierung hat aber die Hoffnungen derjenigen enttäuscht, die mit der Unabhängigkeit der afro-asiatischen Staaten einen Rückgang der kriegerischen Konflikte erwarteten. Mit dem Biafra-Krieg erreichte erstmals ein Nationalitätenkonflikt innerhalb eines jungen Nationalstaates der Dritten Welt weltweite Dimensionen, dank der Intervention europäischer Staaten, denen der Völkermord an 2 Millionen Ibos kein zu hoher Preis für die Durchsetzung der Einheit Nigerias im Interesse britischer Erdölkonzerne und sowjetischer Geopolitik war.

Dem klassischen Fall eines "internen Völkermordes" folgten die Genozide im Südsudan, in Bangladesh und Burundi und die Morde an den Kurden des Irak und an vielen anderen Völkern. Auch der britische Publizist Auberon Waugh, Sohn des britischen Romancier Evelyn Waugh, erinnerte 1969 an nationalsozialistische Verbrechen, die damals erst 25 Jahre zurücklagen und erklärte, dass die Briten von Biafra ebenso wenig wie alle Deutschen von der Nazizeit einfach behaupten dürften, von den Verbrechen ihrer Regierungen nichts gewußt zu haben.

Die Weltpresse verglich den Hungerkessel Biafra, umzingelt von mit britischen Waffen ausgerüsteten nigerianischen Truppen, immer wieder mit nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Als in Biafra täglich 10.000 Kinder Hungers starben, fühlte sich der amerikanisch-jüdische Schriftsteller Elie Wiesel, ein Überlebender des Holocaust, an jene Kinder erinnert, deren Ende er hatte miterleben müssen.

Deutsche Mit-Täter
An den Kriegsverbrechen im Zuge der Entkolonisierung, an den Vernichtungen von Minderheitennationalitäten der Dritten Welt konnten deutsche Regierungen (in West und Ost) nicht mehr direkt teilnehmen; die deutschen Kolonien waren bekanntlich bereits nach dem 1. Weltkrieg verloren gegangen. (Es dauerte allerdings bis in die 70er Jahre, dass z.B. der Wilhelminische Völkermord an den Hereros und Namas in Südwestafrika dokumentiert und publiziert wurde).

Aber mit der Rehabilitierung der Deutschen durch den Westen, der Integration in das Bündnis-System der NATO, die antikommunistische Frontstellung wurden westdeutsche Regierungen schon bald zu Anwälten der Kolonialpolitik ihrer neuen Verbündeten.

Weder die Gräuel in Algerien, noch in Vietnam oder Mozambique stellten westdeutsche Bündnistreue in Frage. Die deutsche Solidaritätsbewegung für das algerische Volk, die mit einer beispielhaften Aktion die Fahnenflucht deutscher Fremdenlegionäre initiierte, wurde mit Duldung der Regierung Adenauer auf dem Boden der Bundesrepublik von französischen Geheimdiensten verfolgt.

Portugal durfte offen deutsche Waffen in seinen Kolonien einsetzen - zu SPD- wie zu CDU-Zeiten. Das persische Schah-Regime setzte Schlägertrupps in Westberlin gegen protestierende deutsche Studenten ein, Schlüsselerlebnis für den Berliner Bürgermeister Heinrich Albertz, die Fronten zu wechseln.

Während des Biafra-Krieges rief die Regierung Brandt-Kiesinger fortgesetzt zu Spenden von Milchpulver und Stockfisch für die Ibo-Kinder auf, was sie einer erstmals über einen Krieg in der Dritten Welt betroffenen und emotionalisierten deutschen Öffentlichkeit bis zum Kriegsende allerdings vorenthalten hatte: die einzige Munitionsfabrik Nigerias in Kaduna - eingerichtet von der Firma Fritz Werner im Rahmen der deutschen Entwicklungshilfe, produzierte vom ersten bis zum letzten Kriegstage fast drei Jahre lang für die nigerianische Armee. Die Regierung Brandt-Kiesinger hatte die 20 bundesdeutschen Experten, die den Produktionsbetrieb aufrechterhielten, nie abgezogen.

Schließlich ist es zur Gewohnheit geworden, dass das Auswärtige Amt Freundschaft mit nahezu allen Regimes pflegt, die Minderheiten verfolgen oder ausrotten, von Tibet bis Timor, von (West) Papua bis Paraguay (Ache-lndianer), als hätten derartige Verfolgungen nicht stattgefunden. Die stets beschwichtigenden Auskünfte sind durch den Koalitionswechsel, von sozial-liberal zu christlich-liberal, unverändert geblieben.

Das Bemühen um die jeweiligen Dementis von Menschenrechtsverletzungen deutet jedoch wenigstens darauf hin, dass ein Unrechtsbewusstsein existiert - dass man sich gelegentlich, vielleicht im offiziellen Bonn auch außerhalb entsprechender Gedenktage, der Zeiten erinnert, in denen in Deutschland Minderheiten systematisch vernichtet wurden.

Gedenken in Bitburg - Reagan für Handelskrieg gegen Nicaragua
Erst in diesem Zusammenhang wird deutlich welche Perversionen des Gedenkens an die Opfer von Bergen-Belsen, welcher erneute Missbrauch aber auch mit den Millionen von den Nazis verheizten deutschen Soldaten, unter ihnen die unzähligen (auch in Bitburg begrabenen) Jugendlichen es bedeutet, wenn ein Präsident der Vereinigten Staaten, gemeinsam mit Bundeskanzler Helmuth Kohl, den 8. Mai 1945 benutzt, um zum Handelskrieg gegen Nicaragua und zur Vorbereitung eines möglichen Krieges der Sterne aufzurufen.

Während beide Häuser des US-Parlaments über den Besuch des Soldatenfriedhofes der vor 40 Jahren Gefallenen ihr Entsetzen ausdrücken, finden Kritiker dieser Eskalation gegen Mittelamerika im US-Parlament keine Mehrheit, obwohl die mit amerikanischer Hilfe in Guatemala abgeschlossenen Massenliquidierungen (ein Genozid an indianischen Maya-Bauern) erst drei Jahre zurückliegen. Im übrigen wird die Mehrheit der Deutschen den überflüssigen Besuch in Bitburg nicht als Ehrung der für Hitler gefallenen Soldaten und dessen Ziele, sondern als Ausdruck der Trauer verstanden haben, zumal die meisten der Zustimmenden sich ebenfalls mit der Gedenkfeier in Bergen-Belsen identifizierten.

"Bewegung der Geschlagenen"
Der Schriftsteller Wolfgang Koeppen (und nicht nur er) hatte sich nach 1945 für Deutschland eine Umkehr gewünscht, "eine Bewegung der Geschlagenen, ein Glaube der Gewaltabsager, der Reumütigen, der Fahnenlosen, der Übernationalen, der brüderlichen Menschen schlechthin". Wir wissen heute, dass nach Kriegsende nur wenig Umkehr im Sinne Koeppens stattgefunden hat - oder etwa stattfinden konnte?

Unzählige Schüler sind in den fünfziger Jahren aufgewachsen, die während ihrer Schulzeit niemals von Verbrechen des Nationalsozialismus erfuhren. Elie Wiesel geißelte dieses Verschweigen in seinem Essay: "Die Massenvernichtung als literarische Inspiration":
"Erst hat der Feind die Juden getötet, dann ließ er sie in Rauch und Asche aufgehen. So wurde jeder Jude zweimal umgebracht. ... Heute versucht man, die Opfer ein drittes Mal zu töten, indem man sie ihrer Vergangenheit beraubt. Daher meine tiefste Überzeugung: Jeder, der sich nicht aktiv und ständig mit der Erinnerung beschäftigt und andere mahnt, ist ein Helfershelfer des Mordens."

Und gilt das nicht für alle Ermordeten, die biafranischen Opfer der deutschen Munitionsfabrik in Kaduna, die Vietnamesen, die Opfer der Vertreibung, die Toten des Archipel Gulag?

Von der Rechten wurden in den Nachkriegsjahren die Opfer des Stalinismus und der Vertreibungen dokumentiert und immer wieder zur Relativierung des Nationalsozialismus missbraucht. NS-Blutrichter und führende Rasseideologen setzten - wie z.B. Hans Globke als persönlicher Berater Adenauers - ihre Arbeit in demokratischen Institutionen fort.

Materielle Wiedergutmachung und "Vergangenheitsbewältigung" fand vor allem soweit statt, wie sie unter dem Druck von außen und innen erbracht werden musste. Ausgespart blieben die Schwächsten - Kommunisten, Homosexuelle, die farbigen Kinder des Rheinlandes sowie die von allen wehrloseste Randgruppe der "Zigeuner", der "Landfahrer", der "Menschen mit häufig wechselndem Aufenthaltsort" (Computerklassifizierung für Sinti und Roma im sozialdemokratisch regierten Nordrhein Westfalen 1984/85).

Sinti und Roma
In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt

Um an dieser Stelle das absolut unbegreiflichste Ausbleiben von "Vergangenheitsbewältigung" deutlich zu machen, sei eine Begebenheit aus dem Beginn unserer Bürgerrechtsarbeit vom Deutschen Evangelischen Kirchentag 1979 in Nürnberg erwähnt.

Auf dem Kirchentag ist es seit Jahrzehnten gute Tradition, mit Podiumsdiskussionen (auf Großveranstaltungen mit jeweils Tausenden von Zuhörern) Themen der nationalsozialistischen Herrschaft und der Judenverfolgungen im Rahmen der christlich-jüdischen Verständigung zu behandeln. Mitwirkende dieser Veranstaltungen sind Persönlichkeiten, die sich in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus ausgezeichnet haben.

Begleitet von Romani Rose, damals in der Bundesrepublik noch unbekannter Vorsitzender des bis 1979 ebenso unbeachtet gebliebenen Verbandes Deutscher Sinti, und zwei älteren Sinti, Überlebenden der NS-Konzentrationslager, bat ich vor ihrem Beginn die Sprecher der Veranstaltungen ("Christsein nach Auschwitz" und "Arierparagraph") um einige Minuten Gehör für Angehörige einer Volksgruppe, "die als zweite Minderheit neben dem jüdischen Volk Opfer des Holocaust geworden war, was selbst bei Kirchentagen tabuisiert würde oder völlig unbekannt sei."

Nur um den Preis eines erbittert geführten Streits gelang es schließlich, bei einer der Veranstaltungen einige Minuten Redezeit für Romani Rose buchstäblich zu erzwingen. Das Beispiel dieser überwiegend besonders kritischen Persönlichkeiten, deren menschliche und politische Integrität nicht in Frage steht, macht deutlich, dass selbstverständlich erscheinende Konsequenzen aus der Vergangenheit selbst dann ausbleiben können, wenn, wie in diesem Falle, die in Auschwitz gequälten, überlebenden Opfer eines Volkes, das nicht nur den Holocaust erleben musste, sondern nach 1945 zum Teil von derselben Administration und Polizei erwiesenermaßen weiterverfolgt wurde - auch im Frühjahr 1979 - eine der wichtigsten Bühnen unseres Landes betreten, wo die Schrecken des Dritten Reiches alle zwei Jahre verhandelt werden, und wo von diesen Verbrechen gegen Sinti und Roma bis dahin noch nie die Rede war.

Der Kirchentag hat seither jeweils eine Großveranstaltung über das Schicksal der Sinti und Roma in sein Programm aufgenommen, und gerade einige der Redner der genannten Diskussionsforen sind inzwischen zu Fürsprechern der Sinti geworden.

Politisch korrekter Rassismus?
Sinti-Vergangenheitsbewältigung Teil zwei! Jahreskongreß der "Deutschen Gesellschaft für Anthropologie und Human-Genetik". Auf diesem Kongress (1981) hatte sich neben etwa 100 ausländischen Gästen auch Prof. Sophie Erhardt, angesagt, frühere Mitarbeiterin der Berliner Zigeunerzentrale des Dritten Reiches, welche die der Vernichtung vorausgehende Totalerfassung aller Sinti und Roma "Großdeutschlands" betrieben hatte.

Feierliche Eröffnung des Kongresses in der Universitätsaula der Universität in Göttingen: Als Redner sind vorgesehen der Vorsitzende der Anthropologie-Gesellschaft, der jüdische Oberbürgermeister Göttingens, der Rektor der Universität. Zwar nicht vorgesehen, jedoch ungehindert, halte ich zwischen zweien der drei eingeplanten Redner ein zehnminütiges Referat über die Rolle der rassenbiologisch orientierten Anthropologie im Dritten Reich. Damals daran beteiligte Wissenschaftler sollten zumindest heute nicht mehr reden dürfen. Mein Schlußsatz fällt aus dem Rahmen des ansonsten wissenschaftlich gehaltenen Referats: "Es ist an der Zeit, den Stall der deutschen Anthropologie endlich einmal auszumisten!"

Betretenes Schweigen des kleineren, Applaus des größten Teils der Anwesenden. Das Referat der belasteten Professorin fiel aus, verschiedene der anwesenden Professoren haben seitdem wegweisende Seminare zur NS-Zigeunerpolitik abgehalten. Aber es hat 36 Jahre gebraucht.

Erst die GfbV hat, in enger Zusammenarbeit mit den Verbänden der Sinti und Roma, den Tatbestand des Völkermords in der deutschen und zum Teil in der internationalen Öffentlichkeit bekannt gemacht. Die Vorherrschaft der bis 1979 dominierenden, rassenbiologisch orientierten "Tziganologie" (Wissenschaft von den Zigeunern), deren Hauptrepräsentant Hermann Arnold offizieller Berater des Bundes-Familienministeriums (zu CDU- wie SPD-Zeiten) und der Katholischen Kirche (90% der Sinti sind katholisch) war, konnte gebrochen werden.

Diese Kampagne für Sinti und Roma setzte die öffentliche Finanzierung von bisher sechs selbstverwalteten sozialen Beratungszentren der Volksgruppe durch. In verschiedenen Städten wurden seither Siedlungen für Sinti gebaut. Die Übernahme der nationalsozialistischen, seit Jahrzehnten von Polizei, Behörden und Wissenschaftlern missbrauchten "Zigeunerakten" durch das Koblenzer Bundesarchiv konnte durch verschiedene Aktionen endlich durchgesetzt werden.

Innerhalb von fünf Jahren wurde somit nachgeholt, was in Deutschland 35 Jahre lang versäumt worden war, der zweiten, von den Nazis zur Ausrottung bestimmten Volksgruppe wenigstens ein wenig Recht zu verschaffen.

Einäugige Anti-Fa
"Ob die, die sterben, zur Linken gehören?"

Unverständlich bleibt das jahrelange Desinteresse der Progressiven im Lande am Schicksal der Sinti und Roma im Dritten Reich. Unter den Tausenden deutschsprachigen Publikationen über den Nationalsozialismus gab es neben mehreren apologetischen rassebiologisch orientierten "Werken" nur ein einziges Büchlein einer Wiener Autorin über diesen Genozid.

In den fünfziger und sechziger Jahren fand das Schicksal einer "zwar nicht offen als Untermenschen bezeichneten, aber so empfundenen und behandelten" Volksgruppe (Ernst Tugendhat), die in ihrer großen Mehrheit an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden war, nachdem ihre überlebenden Angehörigen nach der Rückkehr aus den KZ's sofort Objekte neuer Repressionen geworden waren, auch kein Interesse bei der linken "Vergangenheitsbewältigung".

Die vielen Anti-Faschismus-Gruppen brachten ebenfalls kaum Interesse für eine vermeintlich soziale Randgruppe auf, für die in der dogmatischen sozialistischen Theorie ohnehin kein Platz vorgesehen war. In den realsozialistischen Staaten werden die Sinti und Roma staatlich bis zur Verfolgung reglementiert und diszipliniert, mit staatlicher Erziehung Tausender geraubter Kinder (Ungarn); Unfruchtbarmachung von Romafrauen, Zerstörung ganzer Siedlungen und Zwangsumsiedlung (CSSR).

Zur Instrumentalisierung für eine antifaschistische Ideologie ließen sich Sinti und Roma nicht gut benutzen. Für den anti-imperialistischen Kampf der K-Gruppen war eine derart winzige ethnische Minderheit uninteressant. Nicht nur das Beispiel der Sinti und Roma lässt einiges an 'linker' Vergangenheitsbewältigung der letzten Jahre und Jahrzehnte fragwürdig erscheinen.

Der grüne Bundestagsabgeordnete Joschka Fischer, profilierter Sprecher einer Partei, die politische Konsequenzen in Menschenrechtsfragen zum Programm erhoben hat (und das auch von Afghanistan bis Guatemala glaubwürdig vertritt), skizzierte jüngst linke Einäugigkeit überzeugend und schließt sich damit fast wörtlich der langjährigen Kritik der GfbV an der Dritte Welt Arbeit der Linken an:

"Der Antiimperialismus der Neuen Linken war niemals Ausdruck einer selbstlosen Empörung über die Ungerechtigkeit in der Welt, sondern war immer von höchst eigennützigen Motiven her bestimmt. Erlittenes Unrecht, Ausbeutung und Knechtung, ja nicht einmal Völkermord waren für sich allein ein zureichender Grund, um die westdeutsche Linke für den Kampf eines unterdrückten, fernen Volkes zu mobilisieren.

Wen kümmerte in der Neuen Linken schon Biafra, wen die Ausrottung der südamerikanischen Indianer oder gar der jahrzehntelange Kampf der Kurden im Irak?

Wer fragte nach dem Schicksal der nichtrussischen Völker im asiatischen Teil der Sowjetunion, wer nach den Vorgängen in Tibet? Wohl kaum einer.

Statt dessen solidarisierte man sich eher mit jenen antiimperialistischen Kämpfen, wo man selbst etwas davon hatte. Und "Haben" hieß hier immer, dass der jeweilige antiimperialistische Kampf in "unser linkes Weltbild passen musste."

Fischer findet allerdings bedauerlicherweise diese Position erst dann erschreckend, wenn der antiimperialistische Egoismus der "Neuen Linken" in der Verkleidung der "uneigennützigen weltbefreienden Moral auftritt".

Bernard Kouchner, späterer Gründer der Ärzteorganisationen "Medecins sans frontiere" und "Medecins du Monde", hatte aber bereits 1970 bei Biafra auf die tragischen Konsequenzen einer linken Politik für die Opfer am Völkermord hingewiesen, die "das Massaker der neueren Geschichte nach dem an den Juden zugelassen hat", die ihre Augen bei der Ausrottung der Kurden, der Südsudanesen, der Indianer am Mato Grosso zugedrückt hat und die ihr Engagement daran orientiert, "ob die, die sterben, zur Linken gehören, oder nicht".

"Linke" Solidarisierung mit den Untaten
Spätestens hier muss die Frage erlaubt sein, ob es nicht bereits erneut eine links-dogmatische "Vergangenheit" der Solidarisierung mit den Untaten der 'progressiven' Diktaturen Sekou Teures und Pol Pots, Idi Amins und Ghaddafis, Saddam Husseins und Numeiris (bis zum Ende dessen pro-kommunistischer Phase) gibt, die zu bewältigen ist, und welche moralische Autorität der ständig erhobene Zeigefinger gegenüber nationalsozialistischen Vergangenheiten der Väter- und Großvätergenerationen eigentlich hat, wenn die Söhne und Enkel der Siebziger Jahre sich zu Tausenden in sieben (inzwischen erfreulicherweise überwiegend entschlafenen) kommunistischen 'Massenparteien' organisierten, die das zweite verbrecherischste Regime unseres Jahrhunderts, dessen Prinzipien und dessen Führer Stalin zu einem der Vorbilder ihrer Politik erhoben.

Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg, erklärten die befreiten Häftlinge von Buchenwald. Doch unter sowjetischer Herrschaft wurden gleich nach dem Krieg ehemalige NS-KZ's wie Auschwitz (als Durchgangslager für Deportationen nach Sibirien), Theresienstadt (für Sudetendeutsche), Buchenwald, Sachsenhausen und andere Lager in der damaligen sowjetischen Besatzungszone für über 185.000 Häftlinge, unter ihnen nicht nur ehemalige Nazis, sondern "Klassenfeinde" und Dissidenten, Linke verschiedenster Schattierungen (soweit sie sich zu kritisch zeigten), etc. weiter betrieben. Der Tod von mindestens 32.000 von ihnen in den Lagern der sowjetischen Besatzungszone und nach der Deportation in die UdSSR konnte mit Sicherheit festgestellt werden.

"Was die Welt braucht, ist bestimmt nicht die Idee, die einen aus 'den Konzentrationslagern herauszuholen und dafür die anderen hineinzustecken, sondern die Konzentrationslager selbst müssen abgeschafft werden," kommentierte der amerikanische Ankläger von Nürnberg Robert Jackson derartige Praktiken.

Missbrauchter Antifaschismus
Antifaschistische Traditionen wurden und werden nicht nur in den Staaten des realen Sozialismus sondern auch von Teilen der westlichen Linken immer wieder missbraucht - das haben auch manche der Feiern zum 8. Mai gezeigt - um andere Verbrechen, vor allem des Stalinismus, zu tabuisieren.

Dazu gehört auch, dass man den Nationalsozialismus mit anderen reaktionären und Militärregimes unter dem Begriff Faschismus subsummierte und somit zu einem allgemeinen Phänomen erklärt. Hermann Langbein, langjähriger Vorsitzender des internationalen Auschwitzkomitees, wehrt sich gegen den Ausdruck "antifaschistisch": "Der Nationalsozialismus", so Langbein, "unterscheidet sich wesentlich von allen anderen faschistischen Systemen, und das ist für uns in Deutschland und Österreich interessant: Kein anderes faschistisches System hat aus rassischen Gründen nicht nur seine Feinde, sondern Millionen Menschen nur deswegen in wahren Todesfabriken ermordet, weil sie als Juden oder als Zigeuner auf die Welt gekommen waren."

Die sowjetische Armee hat gemeinsam mit den Armeen des Westens das nationalsozialistische Regime beseitigt, nicht dank Stalin und seines verbrecherischen Regimes, sondern trotz des Diktators, der vor Kriegsausbruch den begabten Oberkommandierenden seiner Armee Tschutschatschewski, zusammen mit der Mehrheit der sowjetischen Generalität, liquidieren ließ, und dann, ein Jahr vor Kriegsbeginn, sich mit dem Hitler-Stalin-Pakt an der Aufteilung der osteuropäischen Staaten beteiligte, Finnland mit einem Krieg überzog und Hunderttausende Balten, Bewohner Ostpolens und der Moldau deportieren und liquidieren ließ.

Die Ausführung des Hitlerschen Vernichtungswerks wäre früher gestoppt worden und Hunderttausende sowjetische Soldaten wären zu Kriegsbeginn nicht desertiert, hätte es den stalinistischen Terror und den Gulag nicht gegeben.

Halbe Befreiung
Am 8. Mai 1945 wurde Europa befreit, doch nicht alle Osteuropäer konnten diese Befreiung als solche empfinden:
Die Millionen Vertriebenen und Vertreibungstoten konnten dies nicht, ebensowenig die von London ausgelieferten Sowjetbürger, auch diejenigen der sowjetischen Kriegsgefangenen, die die Hungerlager der Nazis überlebten - etwa ein Drittel - zu großen Teilen ebenfalls nicht, weil so viele von ihnen nach der Befreiung dem Gulag ausgeliefert wurden, die nichtkommunistischen Demokraten Osteuropas nicht, wenn sie von ihren neuen stalinistischen Regimes liquidiert oder inhaftiert wurden.

Das antikommunistische Trauma vieler ostdeutscher und anderer osteuropäischer Flüchtlinge wurde im Westen für eine antikommunistische Politik benutzt; dieses Trauma musste jedoch nicht erst erfunden werden. Mancher vertriebene ostdeutsche Landarbeiter oder Bauer wird unter Umständen noch immer das Insistieren linker Veranstalter zum 8. Mai, den sowjetischen Einmarsch als Befreiung zu feiern, als Zumutung empfinden.

An der Abdrängung vieler Vertriebener und Flüchtlinge nach rechts ist manches linke Nichtwissen und Nicht-Eingestehen-Wollen mitverantwortlich.

"Die Wahrheit kann kein Revanchismus sein," sagte Lew Kopelew kürzlich, der sich während des sowjetischen Einmarsches in Ostpreußen gegen die Gräuel an der Zivilbevölkerung gewandt hatte.

Nach meiner Erfahrung sind die Taten Stalins, der Kulakenmord, der 6-10 Millionen selbständigen Bauern das Leben kostete, die Völkermordverbrechen an neun sowjetischen Volksgruppen, die Liquidierung von über einer Million Kommunisten, die Vernichtung einer Million nomadischer Kosaken, der wütende Antisemitismus der letzten Jahre Stalins, bei größeren Teilen der Linken noch immer nicht genügend bekannt, sondern innerhalb des eigenen ideologischen Lagers, wenn nicht tabuisiert, so doch unpopulär; eine offene und breite Diskussion findet nicht statt.

Bevor aber dieses düstere Kapitel der Geschichte des Sozialismus nicht ebenso schonungslos und detailliert dokumentiert ist, wie die NS-Verbrechen, wird es innerhalb der Solidaritätsarbeit der Linken immer wieder zu solchen Fehleinschätzungen kommen wie seinerzeit bei der Unterstützung Kambodschas unter Pol Pot. Für schuldig befunden wurde damals nicht die Bestialität der Roten Khmer, sondern 'Spiegel' und 'Stern', denen vorgeworfen wurde, sie hätten als "manipulierende bürgerliche Presse" den kambodschanischen Befreiungskampf diffamiert.

"Auschwitz - ... Anlaß zur Brüderlichkeit"
"Wie können wir das Geschehen aufarbeiten, damit es nicht wie ein inneres Gift weiterwirke und zum Schema des Kommenden werde?", fragte der Religionsphilosoph Romano Guardini.

Jede Trauer um die Opfer des Dritten Reiches, aber auch der Kriegstoten und der Opfer des Stalinismus, jede Aufarbeitung der Vergangenheit, jede Verurteilung des Nationalsozialismus, steht vor dem Dilemma, dass man die Verbrechen von damals nicht ungeschehen machen kann, dass zu antifaschistischen Bekenntnissen bei uns heute in der Regel kein Mut mehr erforderlich ist.

Insofern habe ich das Argument, dass man als Deutscher, dessen Nation Auschwitz zu verantworten hat, sich nicht in die Politik anderer Länder einmischen dürfe (in denen unsere Regierung, insbesondere unser Auswärtiges Amt, unsere Konzerne, insbesondere unsere Waffenproduzenten, in der Regel jedoch ohnehin offen Einfluss nehmen), um dort Genozid und Verfolgung verhindern zu helfen, immer als bequeme Ausrede empfunden.

Eine nur rethorische nationale Sühne, die wir uns bei Kirchentagen, Gedenkfeiern, Parteitagen und christlich-jüdischen Versöhnungsveranstaltungen auferlegen, die dabei aber zur Passivität gegenüber heutigen Opfern von Völkermord führt, erscheint mir lediglich als Fortführung jener Haltung der Nichteinmischung von Millionen Deutschen, als Juden und Sind in die KZ's geführt wurden.

Heinrich Böll erklärte nach dem vollendeten Völkermord an zwei Millionen Biafranern: "Auschwitz muss zum Anlass der Brüderlichkeit und darf nicht als Bremse für Menschlichkeit missbraucht werden."

Als im Mai 1985 ein türkischer Journalist im NDR den vor 70 Jahren verübten fast totalen Völkermord an den Armeniern in der Türkei zugleich beschönigen, entschuldigen und verleugnen durfte, fragte ich beim Leiter der Sendung an, ob als nächstes vielleicht ein ähnlich gelagerter Beitrag eines Neonazis über den Holocaust geplant sei. Empört wurde ich angewiesen, den einzigartigen Holocaust nicht in irgendeiner Weise mit jenen 'umstrittenen' Geschehnissen in der Türkei vor sieben Jahrzehnten in Verbindung zu bringen.

Hitler machte diesen Unterschied bekanntlich nicht, als er vor Kriegsbeginn geplante Verbrechen an den Polen mit dem Hinweis begründete: "Wer spricht heute noch von den Armeniern". Auch das Auswärtige Amt weiß anscheinend um diese Parallele, warum sonst sollte es versuchen, den Bremer Armenien-Kongreß im April 1985 zu verhindern.

Ein Repräsentant einer kirchlichen Institution, die im Juli 1985 die Gedenkveranstaltung der GfbV "Völkermord 40 Jahre nach Auschwitz" mitfinanzieren sollte, erklärte seine ablehnende Haltung des Antrages damit, dass die Deutschen 40 Jahre "danach" noch kein Recht hätten, die Welt zu belehren.

1958 hängte ich Fotos von französischen Kriegsverbrechen in Algerien ans Schwarze Brett meines Gymnasiums, die ich wieder abnehmen musste; als Begründung erhielt ich damals die gleiche Antwort.

Immer wieder wird als unpassend empfunden, heutige Menschenrechtsverletzungen und heutigen Genozid mit dem Dritten Reich in einem Atemzug zu nennen. Abgesehen davon, daß sich derartige Argumente häufiger als Verteidigung heutiger Untaten entlarven, muss der Völkermord nicht unbedingt in der planmäßigen Ausrottung aller Angehörigen eines Volkes bestehen, wie es Hitlers methodische Liquidierung aller Juden und Sinti (aber auch die Vernichtung der Armenier in der Türkei 1915-18 oder von Indianerstämmen in Brasilien in den sechziger Jahren) darstellte.

Wer aber für die Durchsetzung politischer Mittel (Beherrschung Vietnams, Afghanistans, Eritreas oder die Niederwerfung Biafras) die massenweise Vernichtung der Zivilbevölkerung benutzt oder in Kauf nimmt, weil sie das militärisch wirksamste oder wirtschaftlich beziehungsweise propagandistisch erfolgreichste Mittel zur Erreichung seiner politischen Ziele darstellt, der begeht ebenfalls Genozid.

"Hitler und Stalin sind heute noch am Leben"
Der nationalsozialistische Holocaust wurde von Deutschen im Namen Deutschlands begangen. Dieser historischen - und damit unserer politischen Verantwortlichkeit können wir uns ebensowenig entziehen, wie unserer Geschichte insgesamt.

Den nachwachsenden Generationen werden Selbstanklage und alle Anklänge an Kollektivschuld wie der angeblich besonderen Neigung der Deutschen zum Völkermord immer weniger überzeugen. Man wird damit auch langfristig eher eine Aversion gegen die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erzielen, als eine Aufarbeitung, die zu einer Bewältigung der Gegenwart führen könnte.

Der deutsche Nationalsozialismus hätte viele seiner Verbrechen nicht ohne die aktive Kollaboration von vielen Millionen Ost- und Westeuropäern durchsetzen können. Deutsche waren die ersten Opfer der Konzentrationslager. Die Verbrechen des Stalinismus können mit Hitler nicht entschuldigt werden; aber auch kein einziger der Abermillionen nationalsozialistischen Morde kann mit Kenntnissen von anderen Untaten aufgerechnet werden.

"Sowohl die Überängstlichen, als auch die Unbelehrbaren müssen sich sagen lassen, dass die Untaten des Nationalsozialismus so furchtbar waren, dass es weder möglich, noch nötig ist, sie durch Verschweigen anderer Menschenrechtsverletzungen noch grauenhafter zu machen."

Deshalb ist es so töricht, menschliches Leid nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, solche Geschehnisse immer wieder zu tabuisieren. Die Überlebenden sind mitten unter uns. Oft genug schleppen sie noch heute ihre bleibenden seelischen und körperlichen Leiden mit sich herum. Die Realität ihrer Erlebnisse und Erfahrungen sollten wir zur Kenntnis nehmen.

"Meine Lebensaufgabe habe ich darin gesehen, eine Wiederholung der Schrecken zu verhindern. Denn Hitler und Stalin sind heute noch am Leben, vielleicht nur nicht mehr in denselben Ländern" (Simon Wiesenthal). In diesem Sinne sollten wir alles daran setzen, den Schrecken, den die erste und die zweite in der Dritten und Vierten Welt verbreiten, ohne Kompromisse zu bekämpfen und vor allem für jene unter uns Bedrohten eintreten, für die Sinti und Roma, die "Ausländer", die politischen Flüchtlinge.


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch.html | www.gfbv.it/3dossier/rom-dt.html

* www: www.gfbv.de | www.crimesofwar.org | www.aerzteohnegrenzen.de, www.msf.org

Letzte Aktual.: 11.9.2003 | Copyright | Suchmaschine | URL: www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch1.html | XHTML 1.0 / CSS | WEBdesign, Info: M. di Vieste
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