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Romanes

Die Geschichte einer Sprache und eines Volkes

Von Ian Hancock (O Yanko le Redjosko)

Göttingen, Bozen, 12. September 2017

Roma leben seit Jahrhunderten in Europa, doch noch immer werden sie in vielen Ländern ins gesellschaftliche Abseits gedrängt. Foto: The Advocacy Project via Flickr. Roma leben seit Jahrhunderten in Europa, doch noch immer werden sie in vielen Ländern ins gesellschaftliche Abseits gedrängt. Foto: The Advocacy Project via Flickr.

Auf jedem Kontinent wird Romanes gesprochen - nur nicht in der Antarktis und im eigentlichen Ursprungsland der Sprache. Das macht Romanes einzigartig unter den Diaspora-Sprachen der Welt. Die Umstände, die zu dieser Situation geführt haben, sind faszinierend und umstritten. Die Tatsache, dass die Roma selbst bereits sehr früh das Wissen darüber verloren haben, hat dazu geführt, dass es viele bizarre und haltlose Spekulationen über die Herkunft und die Geschichte der Romanes-Sprecher gibt, die allesamt von Nicht-Roma in Umlauf gesetzt worden sind.

Schätzungen gehen davon aus, dass nur etwa die Hälfte der weltweit rund 15 Millionen Roma Romanes (in einer Vielzahl von Dialekten) spricht. Die meisten Romanes-Sprecher leben in Mittel- und Osteuropa, in Nord- und Südamerika sowie in einigen isolierten Gemeinden in anderen Teilen der Welt, wie zum Beispiel in Harbin (China), wohin einige Roma-Familien aus Russland ausgewandert sind.

Roma haben eine Vielzahl von Namen für sich (Eigenbezeichnungen): Cale, Romanichels, Roma, Romungre, Sinti, Manusch und einige andere mehr. Bekannter sind allerdings die Namen, die ihnen von den Mehrheitsgesellschaften gegeben worden sind (Fremdbezeichnungen): Zigeuner, Gitanos, Tziganes, Cikani, Gitans, Zingari, Cingene, Yiftos oder Sipsiwnau. Die Verwendung des übergreifenden Begriffs "Roma" hilft, Verwirrung und vielleicht auch Diskriminierung entgegenzutreten.

Die Vorfahren der heutigen Roma kamen im Verlauf des 13. Jahrhunderts aus Anatolien nach Südosteuropa, aber nicht in einer großen Zuwanderungsbewegung, sondern in steten Schüben von Romanes-sprechenden zusammen mit nicht-Romanes-sprechenden Bevölkerungsgruppen von Kleinasien nach Europa. Der erste größere dieser Bewegungsströme erstreckte sich bis in die westlichen und nördlichen Randgebiete Europas (Deutschland, Skandinavien, England, Spanien). Um 1500 lebten Romanes-sprechende Bevölkerungsgruppen in fast allen Teilen Europas.

Die Europäer wussten nicht, wer die Roma waren, sie wussten nur, dass sie von außerhalb Europas gekommen waren. Da sie die ersten nicht-weißen Menschen in Europa waren, konnten sie kaum übersehen werden. Sie trugen außerdem eine andere Kleidung und waren offenbar weder Christen noch Muslime. Sie sprachen eine Sprache, die niemand einordnen konnte und waren überdies sehr zögerlich, Außenstehenden Zugang zu ihren Familien und zu ihrer Kultur zu gewähren. Wenn sie nach ihrer Herkunft gefragt wurden, waren ihre Antworten meist ausweichend.

Die Europäer verbanden die frühen Roma-Zuwanderer mit dem Byzantinischen Reich und (später) mit dem Osmanischen Reich. Das Byzantinische (Oströmische) Reich bestand fast ein Jahrtausend. Die Bevölkerung wurde von den islamischen Nachbarn als Romi oder Rumi bezeichnet, und es könnte durchaus sein, dass dies der Ursprung der Begriffe "Rom" und "Roma" ist und dass diese Bezeichnungen nicht aus Indien mitgebracht worden sind.

So mannigfaltig wie diese Muscheln am Kaspischen Meer ist auch die Sprache Romanes, die Lehnwörter aus vielen Sprachen enthält. So lautet das Wort für 'Ozean' oder 'See' in einigen Romanes-Dialekten 'doryavo'. Dies ist die persische Bezeichnung für das Kaspische Meer ('Deryav'). Foto: daniyal62 via Flickr. So mannigfaltig wie diese Muscheln am Kaspischen Meer ist auch die Sprache Romanes, die Lehnwörter aus vielen Sprachen enthält. So lautet das Wort für "Ozean" oder "See" in einigen Romanes-Dialekten "doryavo". Dies ist die persische Bezeichnung für das Kaspische Meer ("Deryav"). Foto: daniyal62 via Flickr.

Das Byzantinische Reich war multiethnisch, obwohl vorherrschend Griechisch gesprochen wurde, und es war christlich, obwohl andere Religionen auch toleriert wurden. Eine der christlichen Sekten waren die Manichäer, die sich abschotteten und aufgrund dessen den (griechischen) Beinamen Áthínganoi erhielten, was so viel wie "unberührbar" bedeutete. Derselbe Beiname - "Atsingani" ausgesprochen - wurde auch für die Roma verwendet, weil sie wie die Manichäer Kontakte zu anderen Bevölkerungsgruppen vermieden. Der Begriff hat, bezogen auf die Roma, in verschiedenen Ausprägungen Eingang in europäische Sprachen gefunden. Ein anderer byzantinischer Begriff, der für die Roma verwendet wurde, war Áigýptioi, oder Ägypter (Egyptians auf Englisch). Es ist unklar, warum dieser Begriff benutzt wurde, aber auch er hat Eingang in verschiedene europäische Sprachen gefunden (z. B. "Gypsy", oder in einer früheren Form "gypcian"). Und in Rumänien und Ungarn wurde sogar vom "Pharao-Volk" gesprochen. Die Verbindung von Roma und Ägypten ist so tief verwurzelt, dass selbst einige Roma daran glauben. Alle diese Bezeichnungen sind falsch und reflektieren eine falsche Annahme der Mehrheitsgesellschaften über die Neuankömmlinge aus Asien. Erst jetzt wird weithin die Bezeichnung Roma für diese Menschen verwendet, obwohl auch diese Bezeichnung nicht unproblematisch ist: In einigen Roma-Bevölkerungsgruppen hat das Wort "Rom" die Bedeutung "Ehemann".

Romanes ist eine indische Sprache. Dies erkannten westliche Gelehrte im 18. Jahrhundert, als sie zufällig Ähnlichkeiten mit höchstwahrscheinlich Hindi oder Urdu entdeckten. Angetrieben durch die europäische Kolonisation in Übersee, kam es im Zeitalter der Aufklärung zu einer Zunahme des Studiums nicht-westlicher Völker, Kulturen, Religionen und Sprachen sowie zur Entstehung neuer wissenschaftlicher Disziplinen. Wenn die Roma ursprünglich aus Indien kamen, was machten sie dann im Westen? Warum haben sie ihre Heimat verlassen? Und wann? Hatten sie ein eigenes Land? Und warum leben sie bis heute am Rand der Gesellschaft?

Die erste weit verbreitete Hypothese stellte der deutsche Kulturhistoriker Heinrich Grellmann in seinem Buch "Die Zigeuner. Ein historischer Versuch über die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volks in Europa, nebst ihrem Ursprunge" (1783) auf. Grellmann vermutete, dass die "Zigeuner" - da sie mühsame Arbeiten ausführten und sich überall als Musiker durchschlugen - von der niedrigsten der vier indischen Kasten, der Schudra, abstammten, deren Angehörige in Indien auf die gleiche Art zu leben pflegten. Somit würden die "Zigeuner" nur das tun, was sie schon immer getan haben. Dennoch schien es ungewöhnlich zu sein, dass ein Volk, das eine Abwandlung des edlen Sanskrits spricht, nur einen so geringen Status in der europäischen Gesellschaft einnehmen sollte.

Damit war allerdings immer noch nicht geklärt, warum die Roma von Indien nach Europa gekommen waren - und wann und warum sie aufgebrochen waren. Diesen Teil des Puzzles steuerte der englische Offizier John Harriott bei, der in Indien stationiert war. In einem 1830 erschienenen Aufsatz schrieb er, er habe die Antwort auf diese Fragen im "Shah Nameh" ("Buch der Könige") gefunden, einer Abhandlung des Dichters Firdausi aus dem 11. Jahrhundert über die persische Geschichte. In dem Abschnitt, der sich mit der Dynastie der Sassaniden im 5. Jahrhundert befasst, fand sich folgende Geschichte: Die Tochter von Bahram Gur, dem Schah von Persien, hatte einen indischen Prinzen namens Shankal geheiratet. Bei einem Besuch bei seinem Schwiegervater kamen Shankal dessen Untertanen alle unglücklich vor, und er versprach, nach seiner Heimkehr nach Indien 10.000 Musiker (in einem anderen Bericht ist von 12.000 die Rede) zu schicken, um die persischen Bevölkerung aufzuheitern. Er tat dies auch, doch nach einem Jahr verlor Bahram die Geduld mit den Musikern und schickte sie alle fort. Harriott argumentierte, da es im "Buch der Könige" keinen Hinweis darauf gab, dass sie nach Indien zurückgekehrt seien, müssten sie nach Westen weitergezogen und so schließlich nach Europa gekommen sein.

Das passte gut zu Grellmanns Schudra-Theorie. 1844 wies der deutsche Gelehrte Hermann Brockhaus darauf hin, dass es innerhalb der Schudra-Kaste eine Untergruppe gab, die als Dom oder Domba bekannt war: Menschen, die die niedrigsten Arbeiten ausführten, bettelten und andere unterhielten. Er stellte fest, dass die "Zigeuner" sich selbst als Rom bezeichneten, was nahezu das gleiche Wort sei. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden weitere Hypothesen entwickelt, doch die Geschichte des "Buchs der Könige" setzte sich als gängige Erklärung durch. Sie findet sich vielfach in der Literatur wieder - selbst in Büchern, die erst 2014 erschienen.

Anfang des 20. Jahrhunderts konzentrierte sich die Forschung zunehmend auf die Sprache der Roma, wobei sich zwei Haupthypothesen herausbildeten. Die eine war, dass sich Romanes aus der Dialektgruppe Zentral-Indiens entwickelt hatte - die andere, dass der Ursprung in der nordwestlichen Gruppe liegen müsse. Die beiden Protagonisten dieser Debatte waren John Sampson und Ralph Turner. Beide vertraten die Auffassung, dass die Vorfahren der Roma Indien als eine klar bestimmte Volksgruppe, die eine spezifische indische Sprache der mittelindischen Epoche (d. h. aus der Zeit vor dem 11. Jahrhundert) sprach, irgendwann im 9. Jahrhundert verlassen hatten.

In den vergangenen Jahrzehnten begann eine kleine Gruppe von Akademikern, alle selbst Roma, diese weithin akzeptierte Geschichte ihrer Vorfahren näher zu untersuchen. Warum hätte eine Gemeinschaft von ein paar tausend Indern, laut Harriotts These, im 5. Jahrhundert Indien verlassen und - unter Beibehaltung ihrer Sprache und ihrer Identität - für die nächsten sieben Jahrhunderte irgendwo im Nahen Osten siedeln sollen, um dann nach Europa weiterzuziehen? Warum gab es im frühen Romanes keine arabischen oder türkischen Worte? Außerdem war es für eine Gruppe von Unterhaltungskünstlern und Handwerkern unüblich, größere Distanzen ohne schützende Begleitung zurückzulegen; für gewöhnlich reisten sie unter dem Schutz von Armeen oder großen Kaufmannskarawanen.

Den Einstieg in diese Forschungsarbeit bildete die Sprache, was kein neuer Ansatz war: Bereits 1870 hatte Alexander Paspati in seiner monumentalen Abhandlung über die Roma im osmanischen Europa ausgeführt, dass es die Sprache sei, die Rückschlüsse auf die Geschichte der Roma zulasse.

Ein Mann im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh: Romanes ist eine indische Sprache. Dies erkannten westliche Gelehrte im 18. Jahrhundert, als sie zufällig Ähnlichkeiten mit höchstwahrscheinlich Hindi oder Urdu entdeckten. Foto: Sergio Carbajo via Flickr. Ein Mann im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh: Romanes ist eine indische Sprache. Dies erkannten westliche Gelehrte im 18. Jahrhundert, als sie zufällig Ähnlichkeiten mit höchstwahrscheinlich Hindi oder Urdu entdeckten. Foto: Sergio Carbajo via Flickr.

Die Geschichte von Romanes kann vielleicht am besten mit einer Zwiebel vergleichen werden. Die Zwiebel besteht aus verschiedenen Schichten; die innerste Schicht ist der Ursprung der Zwiebel. Bezogen auf Romanes ist das Herz der Zwiebel indischen Ursprungs. Die nächsten darüber liegenden Schichten beinhalten, nach und nach, Begrifflichkeiten aus Phalura - das 1990 nur noch rund 8.600 Menschen in Nordpakistan sprachen -, aus dem Persischen, dem Kurdischen, Armenischen, Griechischen und so weiter. Sie wurden von den Vorfahren der Roma auf dem Weg von Indien nach Westen in ihre Sprache übernommen. Es gibt eine Handvoll Worte, die auf Burushaski zurückgehen, einer Sprache, die nur in einem kleinen Gebiet in der Himalaya-Region vorkommt. Und es gibt zwei oder drei Worte aus dem Georgischen, einer Sprache, die im Kaukasus gesprochen wird - sowie einen Begriff aus dem Tatarischen. Hinweise wie diese sind eine große Hilfe bei der Erstellung einer Route, die die Roma von Indien aus genommen haben könnten.

Diese lexikalische Detektivarbeit liefert aber nicht nur geografische Belege, sondern auch soziale und historische Hinweise. So lautet das Wort für "Ozean" oder "See" in einigen Romanes-Dialekten "doryavo". Dies ist die persische Bezeichnung für das Kaspische Meer ("Deryav"), dem ersten großen Gewässer auf der aus Indien kommenden Route. Man kann deshalb davon ausgehen, dass die Wanderungsbewegung der Roma an der Seidenstraße entlang und am südlichen Ufer des Kaspischen Meeres verlief. Den ersten Kontakt zum Christentum hatten die hinduistischen Vorfahren der Roma, als sie auf die Armenier trafen: Die Worte für "Ostern", "Weihrauch " und "(Tauf-)Pate" entstammen dem Armenischen. Das Wort für den Dreizack des hinduistischen Gottes Shiva ("trishula") wurde zum Wort für das christliche Kreuz ("trushul") und aus einem hinduistischen Heiligen ("rishi") wurde ein christlicher Heiliger ("rashay"). Aufgrund der strukturellen Ähnlichkeit wurde das indische Wort für "Zinnen" ("kangura") zum Romanes-Wort für "Kirche" ("khangeri"). Begriffe der Metallbearbeitung stammen nahezu ausschließlich aus dem byzantinischen Griechisch; nur die Begriffe "Gold" und "Silber" habe ihre alte indische Form und Bedeutung behalten.

Nach der Ankunft im Byzantinischen Reich ließ sich die gemischte ethnolinguistische Gruppe indischer Herkunft in Anatolien nieder, und Mischehen untereinander führten dazu, dass die verschiedenen indischen Sprachengruppen allmählich verloren gingen. Umgeben vom Griechischen bekamen die Grammatik und das Vokabular zunehmend einen hybriden Charakter. Nach dem indischen Ursprung hatte das byzantinische Griechisch mit Hunderten Wörtern den nächstgrößten Einfluss auf den Wortschatz des Romanes. Während sich die Sprache zunehmend ausformte, wurde aus den Indern, deren Zugehörigkeit zunächst primär über ihre Profession definiert war, allmählich eine ethnisch definierte Volksgruppe.

Die Herausbildung des Volkes der Roma und ihrer Sprache Romanes geschah langsam und über eine lange Zeit. Die Roma wanderten auch nicht alle gemeinsam in einer großen Wanderungsbewegung nach Europa. Der Dialekt der ersten Gruppen, die Anatolien verließen, weist weniger griechische Worte auf. Nach ihrer Ankunft in Europa wanderten die einzelnen Gruppen in verschiedene Richtungen weiter und kamen so mit unterschiedlichen europäischen Sprachen in Kontakt. Heute sind beispielsweise die Roma in Spanien von den Roma in der Slowakei bereits seit Hunderten von Jahren durch Hunderte von Kilometern getrennt. Ihre Vorfahren hatten Asien zu einer Zeit verlassen, als die Identitätsbildung der Roma noch nicht abgeschlossen war. Es ist daher nicht überraschend, dass die Roma heute nicht in der Lage sind, ihre Geschichte zusammenhängend wiederzugeben.

Es gilt aber festzuhalten, dass alle Roma-Bevölkerungsgruppen bis zu ihrer Wanderungsbewegung nach Europa hinein dieselbe Geschichte teilten. Erst nachdem sie Europa erreichten, entwickelte sich die Geschichte der verschiedenen Gruppen in unterschiedliche Richtungen. Es ist fast paradox, dass die Roma erst in Europa eine eigenständige ethnische Gruppe (Volk) bildeten, obwohl ihre Sprache, Kultur und genetische Geschichte asiatischen Ursprungs sind.

Die letzte große mittelalterliche Wanderungsbewegung der Roma nach Europa geschah infolge der Übernahme des Byzantinischen Reiches durch die Osmanen und die Expansion des nunmehr Osmanischen Reiches nach Europa hinein. Wie bereits zu früheren Zeiten begleiteten die Roma die osmanischen Armeen als Dienstleister und halfen beim Herstellen von Waffen und Baustoffen. Auf dem Balkan angelangt, waren sie als Handwerker schier unersetzlich. Einer Theorie zufolge begannen sie, aufgrund der zunehmenden Ausbeutung, sich von ihren osmanischen Dienstherren zurückzuziehen. Um eine Abwanderung der wichtigen Arbeitskräfte zu verhindern, wurden Gesetze erlassen, die die Roma von freien Menschen zum "Eigentum" ihrer Dienstherren machten: Sie waren jetzt Leibeigene bzw. Sklaven. Flucht konnte mit dem Tod bestraft werden.

In den Fürstentümern Moldawien und Walachei (beide heute Teil von Rumänien) blieben Roma mehr als 500 Jahre lang versklavt. Als die Sklaverei dort endlich Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschafft wurde, verließen viele freigelassene Sklaven die beiden Fürstentümer über die Grenze, die am nächsten war: Roma im Osten gingen nach Russland, Roma im Westen nach Serbien. Viele blieben in diesen Ländern, andere wanderten weiter und erreichten um die Wende zum 20. Jahrhundert Nord- und Südamerika. Die Nachfahren dieser befreiten Roma-Sklaven werden heute kollektiv als Vlax-Roma* bezeichnet.

Wird die Sprache Romanes überleben?

Roma, die Romanes sprechen, geben ihre Sprache nur mündlich von Generation zu Generation weiter. Es gibt sehr wenige Institutionen, die Kurse in Romanes anbieten: gelegentlich stattfindende Sommerschulen, zum Beispiel in Spanien oder Ungarn, oder einige Graduiertenprogramme an (sehr wenigen) Universitäten. Dies liegt zum einen daran, dass es nicht genügend ausgebildete Romanes-Lehrer gibt, zum anderen aber auch, dass nur sehr wenige daran interessiert sind, Romanes zu lernen. Es gibt sogar Roma, die nicht wollen, dass ihre Kinder Romanes lernen, weil sie befürchten, dass ihnen dadurch Nachteile erwachsen könnten, weil sie die Kenntnis von Romanes als "Roma" identifiziert.

Viele Roma haben nur geringe (oder gar keine) Lese- und Schreibkenntnisse, und wenn sie lesen und schreiben können, dann nicht in Romanes, sondern in der Sprache der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Bei den meisten ist der Grund für den Analphabetismus, dass sie keinen Zugang zu einer richtigen Schulbildung hatten. In vielen Teilen Europas werden noch heute Roma-Kinder in Sonderschulen für geistig Zurückgebliebene untergebracht, die kaum mehr als Kinderbetreuungseinrichtungen sind, so gut wie keine Schulkenntnisse vermitteln und natürlich weder bilinguale noch bikulturelle Lehrpläne haben.

Auf der anderen Seite sind viele Roma immer noch misstrauisch, wenn Nicht-Roma Romanes lernen wollen. Eine jüngere Generation erkennt jetzt aber zunehmend an, dass ihre Sprache nicht im Verborgenen bleiben kann. Es gibt mittlerweile zahlreiche Grammatikbücher und Wörterbücher (über 200 allein im Roma-Archiv der University of Texas in Austin) sowie Online-Kurse in Romanes. Wer Romanes erlernen will, kann dies tun. Trotzdem ist die Zahl der Nicht-Roma, die fließend Romanes sprechen, nach wie vor gering - und Anwaltskanzleien sind ständig auf der Suche nach Dolmetschern, die zum Beispiel bei Asylfällen helfen können.

Eine einheitliche gemeinsame Sprache ist unabdingbar für ein Volk in der Diaspora, das heute rund 15 Millionen Menschen verstreut über die ganze Welt umfasst. Aber die Vorfahren der Roma haben natürlich auf ihrem Weg durch die Himalaya-Region keine Begriffe für "Computer" oder "Solarpanel" mitgebracht. Da neue Dinge neue Begrifflichkeiten erfordern, muss ein standardisiertes Romanes geschaffen werden, das von allen verstanden wird. Wenn etwa Roma aus Mexiko nach Texas kommen und sich dort auf einen Deckenventilator beziehen, verwenden sie das aus dem Spanischen abgeleitete Wort "bentiladoro". Amerikanische Roma verwenden dagegen das aus dem Englischen abgeleitete Wort "feno". Sie haben keinen gemeinsamen Begriff und müssen auf Paraphrasierungen mit älteren Worten zurückgreifen, die beide Gruppen kennen - etwa "le phak kay spiden e balval" ("die Flügel, die den Wind bewegen") oder einfach nur "le phak". Es gab bereits einige Versuche, ein standardisiertes Romanes zu schaffen, aber dies waren meist Arbeiten von Dilettanten und Hobbyisten, die der überwiegenden Mehrheit der Romanes-sprechenden Menschen unbekannt blieben.

Die Zukunft der Sprache der Roma kann - wie alles, was unser Volk betrifft - nicht in einem einzigen Satz zusammengefasst werden. Es wäre zu früh, Romanes generell als gefährdete Sprache einzustufen, denn dies hängt auch davon ab, welche Untergruppe und welche Region betrachtet wird. Unbestreitbar verschwindet die Sprache in einigen Gegenden. Dort wird ihr Platz von "Pseudo-Romanes" eingenommen, was im Wesentlichen nichts anderes ist als die Landessprache mit einem mehr oder weniger großen Anteil von eingestreuten Romanes-Begriffen. Doch auch in diesen Ländern wächst das Interesse an der verlorenen Sprache der Vorfahren. Dort, wo es Programme gibt, die diese Sprache wiederbeleben sollen, wird nicht selten argumentiert, dass es sinnvoller sei, das weit verbreitete Vlax-Romanes statt der alten lokalen Sprache zu lehren. Die nach 1989 einsetzende Wanderungsbewegung von Vlax-Roma aus Osteuropa in Richtung Westen hat diese Sprache auch in Gegenden gebracht, wo sie bereits verlorengegangen war, so vor allem in Ungarn.

Romanes hat in einigen Gegenden besser fortbestanden als in anderen. Es ist nicht überraschend, dass Romanes vor allem von solchen Roma-Gruppen weiter verwendet wurde, die am stärksten von der Nicht-Roma-Welt abgetrennt waren - wie die Vlax-Roma, die durch die mehr als fünf Jahrhunderte währende Sklaverei ausgegrenzt waren, oder auch die Sinti. Die Bayash- oder Ludari-Roma hingegen, die von den Haussklaven abstammen, sprechen jetzt zumeist eine Abwandlung des Rumänischen, nicht Romanes. An anderen Orten, vor allem in Ungarn und Spanien, wurde Romanes im 18. Jahrhundert per Gesetz verboten. Einige Roma sagen, dass man kein Roma mehr ist, wenn man nicht die Sprache Romanes spricht.

Sprache ist unverzichtbarer Kulturträger und eine eigenständige Kultur wird am besten von den Gruppen bewahrt und gepflegt, die auch ihre eigene Muttersprache bewahren und pflegen. Solange wir als ein eigenständiges Volk in unseren verschiedenen mannigfaltigen Ausprägungen existieren, wird es immer irgendwo Menschen geben, die Romanes sprechen.

* "Vlax" ist von der Region "Walachei" abgeleitet. Die Vlax-Roma haben aber nichts mit den Walachen oder Vlachen zu tun, eine Sammelbezeichnung für Volksgruppen in Südosteuropa, die mehrere eng miteinander verwandte balkanromanische (nicht Romanes) Sprachen sprechen.

Ian Hancock (Romani-Name: O Yanko le Redžosko) wurde in Großbritannien geboren. In den späten 1960er Jahren politisierte er sich und begann, sich für die Rechte der Roma einzusetzen. Er hatte keinen weiterführenden Schulabschluss, wurde aber aufgrund einer kurzzeitigen Initiative der britischen Regierung in das Postgraduierten-Programm der School of Oriental and African Studies der University of London zugelassen. 1971 promovierte er, als erster Roma in Großbritannien, in Afrikanischer Linguistik. 1972 wurde er als Professor für Linguistik an die University of Texas in Austin berufen, wo er außerdem das Roma Archiv- und Dokumentationszentrum aufgebaut hat. Er hat die Roma bei den Vereinten Nationen und in zahlreichen anderen internationalen Gremien sowie Institutionen vertreten und mehr als 300 Bücher und Artikel über die Roma und ihre Sprache veröffentlicht, darunter "The Pariah Syndrome: An Account of Gypsy Slavery and Persecution" (1987), "A Handbook of Vlax Romani" (1995) und "We are the Romani People" (2002). International bekannt ist er auch für seine Arbeiten zu den kreolischen Sprachen.

Aus pogrom-bedrohte Völker 301 (4/2017)