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Armenier

Fast einhundert Jahre Genozid-Leugnung - Die Türkei muss sich ihrer Geschichte stellen

Von Tessa Hofmann

Göttingen, April 2015

Witwen und Waisen in Tarsus. Foto: Informations- und Dokumentationszentrum Armenien (ODZA). Witwen und Waisen in Tarsus. Foto: Informations- und Dokumentationszentrum Armenien (ODZA).

Die offizielle Türkei weigert sich hartnäckig, die systematische Vernichtung der christlichen Ethnien während des Ersten Weltkriegs als Genozid anzuerkennen und die Hinterbliebenen bzw. deren Nachkommen um Verzeihung zu bitten. Dabei sind Heilung und Aussöhnung nur auf diesem Weg erreichbar.

Die Republik Türkei sei auf den Leichen der ermordeten Armenier gegründet worden, äußerte vor Jahren der türkische Genozidforscher Taner Akçam. In der Tat deuten die meisten Forscher die Vernichtung der osmanischen Christen als Folge "moderner" Nationsbildungsprozesse. Akçams französisch-armenischer Kollege Raymond Kévorkian brachte dies auf die Kurzformel "zerstören, um aufzubauen".[1] Das nationalistische Regime des "Komitees für Einheit und Fortschritt", im Ausland als "Jungtürken" bekannt, wollte das schwächelnde Osmanische Reich seit 1910 durch gezielte bevölkerungspolitische Maßnahmen stabilisieren. Dazu gehörte die sprachliche Türkisierung des Vielvölkerreiches und vor allem die gezielte Zer- und Umsiedlung nicht-türkischer Ethnien. Die christlichen millets(‚Glaubensnationen') - Armenisch-Apostolische, Griechisch-Orthodoxe, Katholiken einschließlich der unierten Kirchen - mit ihren Jahrtausende alten, gefestigten Identitäten hielt man allerdings für nicht mehr assimilierbar, ganz abgesehen davon, dass die Enteignung der industriell und finanzwirtschaftlich dominanten osmanischen Griechen und Armenier ein zu verlockendes Motiv zu ihrer Vernichtung bildete.

Diese Zusammenhänge und ihre genozidalen Folgen waren in den Anfangsjahren der Republik Türkei noch allgemein bekannt und wurden auch öffentlich bzw. parlamentarisch erörtert, wobei die ründer der Republik ebenso wie ihre jungtürkischen Vorgänger das Vorgehen gegen die Armenier mit der "Rettung des Vaterlands" rechtfertigten.[2] Eine elaborierte Leugnungsliteratur und -politik entstand erst in Reaktion auf den armenischen "Erinnerungskampf" (S. Bayraktar) ab den 1980er Jahren.

Eine Ausnahme bei der Umdeutung der jungtürkischen Staatsverbrechen als patriotische Taten bildete der Gründer der Republik und deren erster Präsident, Mustafa Kemal: Er nutzte ein 1926 in Izmir aufgedecktes Mordkomplott dreier Verschwörer, um mit jenen Jungtürken abzurechnen, die sich von der kemalistischen "Volkspartei" (CHP) abgespalten und die oppositionelle "Fortschrittspartei" gegründet hatten. In dieser Phase innenpolitischer Zuspitzung distanzierte sich der spätere "Vater der Türken" (Atatürk) ausdrücklich von den Verbrechen der Jungtürken, als er am 1. August 1926 in einem Interview ausführte: "Diese Überbleibsel der einstigen Jungtürkenpartei, die für das Leben von Millionen unserer christlichen Untertanen zur Rechenschaft hätten gezogen werden müssen, die unbarmherzig en masse aus ihren Heimen vertrieben und massakriert wurden, diese Jungtürken sind unter republikanischer Herrschaft aufsässig geworden. Bisher haben sie von Plünderungen, Raub und Erpressung gelebt (...)"[3]

Man muss diese Äußerung Kemals als zutiefst heuchlerisch einstufen. Denn zeitgleich mit seinem Interview erging ein Regierungsbeschluss, womit jegliches vor dem 6. August 1924 beschlagnahmte Eigentum weiterhin einbehalten wurde.[4] Damit sanktionierte das kemalistische Regime nicht nur a posterioriden genozidalen Raubzug seiner Vorgänger, sondern erhob sich zu dessen alleinigem Nutznießer.

Kemals Regime hat zugleich den Grundstein für die Umdeutung der jungtürkischen Verbrechen gelegt. So fanden die von den alliierten Besatzern des Osmanischen Reiches 1918 und 1919 juristisch wegen "Verbrechen gegen die Menschheit" verfolgten Jungtürken nicht nur Zuflucht im Herrschaftsbereich der nationalistischen Gegenregierung in Ankara, sondern sie wurden auch in den kemalistischen Staatsapparat übernommen; Mustafa Abdülhalik Renda beispielsweise, der als räfekt von Bitlis die Lebendverbrennung Tausender Armenier angeordnet hatte, bekleidete in der Republik Türkei zwei Ministerämter und wurde Parlamentspräsident.[5]

Die Urteile, die osmanische Militärgerichtshöfe 1919 und 1920 über die - meist flüchtigen - jungtürkischen Völkermörder fällten, hob die kemalistische Regierung umgehend auf. Die Familien der wenigen Verbrecher, deren Todesurteile 1919 vollstreckt worden waren, erhielten staatliche Zuwendungen und "Entschädigungen" aus dem von den Jungtürken beschlagnahmten Besitz der Armenier, ebenso wie die Angehörigen jener insgesamt sechs osmanischen Opfer armenischer Vergeltungsattentate.[6]

Die Erschießung der für den Genozid unmittelbar verantwortlichen Jungtürken durch armenische Rächer begründete in der Türkei einen bizarren, bis heute anhaltenden Kult, bei dem die politisch für Massenmord Verantwortlichen ebenso wie dessen Ausführende zu Opfern armenischen Terrorismus sowie als patriotische "Retter des Vaterlands" stilisiert werden. Nicht nur in der Türkei selbst, sondern sogar in den einst türkischen Vierteln Süd-Zyperns tragen öffentliche Einrichtungen, insbesondere Schulen und Moscheen, sowie Straßen und Plätze den Namen des jungtürkischen Innenministers Talat, obwohl dieser am 5. Juli 1919 von einem osmanischen Militärgericht wegen der "Massaker und Vernichtung der Armenier" zum Tode verurteilt worden war.[7]

Dass die staatlich geplanten und organisierten Deportationen und Massaker, die 1915/16 an den osmanischen Armeniern verübt wurden, genozidaler Absicht entsprangen, haben bis heute sämtliche türkische Regierungen mit der eingangs genannten Ausnahme Mustafa Kemals im Jahr 1926 bestritten. Eine entscheidende Rolle bei der geschichtspolitischen Indoktrinierung der Bevölkerung spielen Schulgeschichtsbücher. Während sich diese bis 1980 gänzlich über die Existenz von Armeniern in der osmanischen Geschichte ausschwiegen, wurde ab 1981 die "Armenische Frage" als verbindlicher Lehrstoff in die Hochschulerziehung sowie in entsprechende Lehrpläne und -bücher eingeführt. Doch blieb die Darstellung der Deportationen von 1915 zunächst noch knapp, trivialisierend im Hinblick auf die Dimension der Vernichtung und apologetisch, indem die Vernichtungsabsicht bestritten und die Verantwortung für den osmanischen Deportationsbeschluss Russland bzw. den Armeniern selbst zugeschrieben wurde.[8] Seit Mitte der 1990er Jahre mehrte sich in türkischen Schulbüchern die Unterstellung des Verrats, den christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich angeblich begangen haben sollten. So hieß es in einem Schulgeschichtsbuch von 1995:

Obdachlose und von Hunger gezeichnete Waisen. Foto: Informations- und Dokumentationszentrum Armenien (ODZA). Obdachlose und von Hunger gezeichnete Waisen. Foto: Informations- und Dokumentationszentrum Armenien (ODZA).

Griechen und Armenier, die als türkische Bürger jahrhundertelang in Frieden gelebt hatten und von allen möglichen Gelegenheiten seitens des Staates profitiert hatten, nutzten die Notlage des osmanischen Staates aus und kooperierten mit den Besatzermächten, um unsere Gebiete aufzuteilen ... Das armenische Racheregiment, das in Adana mit französischer Hilfe aufgestellt worden war, begann umfangreiche Massaker.[9]

Sechs Jahre später, am 29. Mai 2001, rief der türkische Regierungschef mit seinem Runderlass Nr. B.02.0.PPG.0.12.320-8312-2 den bis heute bestehenden Koordinationsrat gegen die haltlosen Genozidanschuldigungen(ASIMKK = Asilsiz Soykirim Iddialari ile Mücadele Koordinasyon Kurulu'nun) ins Leben. Diesem Gremium gehören folgende Ministerien, Behörden und Einrichtungen an: Verteidigung, Justiz, Inneres, Äußeres, Erziehung, Kultur und Hochschule, der Inlandsgeheimdienst Nationale Aufklärungs-Organisation(MIT), der Untersekretär der Türkischen Historikergesellschaft sowie das Generaldirektorium der Staatsarchive. Vorsitzender qua Amt ist seit 2003 der Außenminister der Türkei. Dieses Gremium kontrolliert die Umsetzung der staatlichen Geschichts- und Erinnerungspolitik nicht nur in der Türkei, sondern über deren diplomatischen Dienst auch im Ausland.

Zum Zweck einer proaktiven Auseinandersetzung mit den "haltlosen Genozidanschuldigungen" dekretierte der damalige Erziehungsminister Dr. Hüseyin Çelik 2002 und 2003 in Rundschreiben und Erlassen, dass die Lehrer der Sekundarstufe die "haltlosen Behauptungen von Armeniern, Pontos-Griechen und Syrisch-Orthodoxen" zum Unterrichtsgegenstand machen und zielführende Schüleraufsatzwettbewerbe abhalten sollten. Ab der 5. Klasse sollten Schüler über die "armenischen Genozidbehauptungen" informiert werden. Ab der 7. Klasse sollten folgende Themen vertieft werden: "Warum haben die Armenier die Weltöffentlichkeit wieder mit ihren Genozidbehauptungen konfrontiert?" und "Was sind die Ziele der Morde der armenischen Terrororganisation ASALA[10]?"[11]

Doch Çeliks Erlasse lösten erstmals auch öffentlichen Protest aus: Die Bürgerinitiative "Baris için Tarih" (Geschichte für Frieden) wehrte sich gegen die amtlich angeordnete Aufhetzung von Schülern gegen Minderheiten:

"In den Schulbüchern, die das erwähnte Rundschreiben vorschreibt, werden Armenier, Griechen und Syrer als Feinde dargestellt. Unsere Untersuchungs- und Beobachtungsgruppe weist darauf hin, dass in den neu verfassten Schulbuchabschnitten Armenier, Pontos-Griechen und Syrer wiederholt als ‚Feinde', ‚Spione', ‚Verräter' und 'Barbaren' bezeichnet werden."

Noch im Gedenkjahr 2015 beschwören diese Bücher wahrheitswidrig eine angeblich goldene Vergangenheit der Armenier unter osmanischem Schutz:

"Nachdem die Türken [im ausgehenden 11. Jahrhundert, R.K.] in Anatolien eindrangen, sind die Armenier in den Genuss einer gerechten, humanen, toleranten Verwaltung gekommen (...) Die Armenier (...) haben jahrhundertelang innerhalb der Grenzen des osmanischen Staates in Frieden und Wohlstand gelebt. Der osmanische Staat hat sich nicht in ihre Sprache, ihre Religion, ihre Lebensart und ihre Kultur eingemischt." (A, S. 47)[12]

Warum sich die Armenier trotz dieser Idylle gegen die Osmanen aufstacheln ließen, bleibt der Deutung der Lehrkräfte und Lernenden überlassen. Wie in früheren Ausgaben werden Zahlenangaben für die armenische Bevölkerung und die Deportierten heruntergerechnet; nach Darstellung des Lehrbuchs für die 10. Klasse wurde jeder zweite Armenier im Osmanischen Reich deportiert - "702.900 Terroristen und Aufständische", von denen dann 300.000 an "Kriegsfolgen und Krankheiten" starben, trotz der Sorge, die die Regierung für die "Umgesiedelten" angeblich trug:

"Damit die Bedürfnisse der umgesiedelten Armenier unterwegs gestillt werden, wurden eigens Beamte beauftragt (...) Damit auf dem Weg zum Zielort und am Zielort selbst niemand die Umsiedler tätlich angreift, wurden geeignete Maßnahmen ergriffen. Angreifer wurden umgehend festgesetzt und dem Kriegsgericht zugeführt (...) Man hat darauf geachtet, dass der Boden an den Zielorten fruchtbar ist und es an Wasser nicht mangelt. Um die Sicherheit von Leib und Leben zu gewährleisten, wurden dort Polizeistationen gegründet." (E, 212)[13]

Auf türkischer Seite sind nach dieser Darstellung fünffach mehr Opfer - 1.400.000 Türken insgesamt - zu beklagen als auf armenischer Seite, von denen 600.000 auf armenisches Konto gehen: (...) "nach offiziellen russischen Quellen [haben] allein in Erzurum, Erzincan, Trabzon, Bitlis und Van die Armenier an die 600.000 Türken massakriert, 500.000 wurden vertrieben."[14]

2010 entwickelte der damalige Außenminister Ahmet Davutoglu seine evasive Doktrin, wonach die Türkei zwar dem "Schmerz der Armenier" Respekt zollt, ohne freilich Täter oder deren Schuld zu erwähnen. Der damalige Regierungschef Erdogan, der 2009 in einem Interview behauptet hatte, es gäbe kein einziges Dokument, das den Genozid an den Armeniern beweise[15], übernahm in seiner jüngsten, am 23. April 2014 veröffentlichten Erklärung die Davutoglu-Doktrin ("Die Ereignisse des Ersten Weltkriegs bilden unseren geteilten Schmerz")[16] und rief wie schon 2005, zu einer türkischarmenischen Historikerkonferenz auf - so als gäbe es noch immer Klärungsbedarf. Eine von "Hürriyet" am 25. 12. 2014 veröffentlichte Meinungsumfrage[17] zu Erdogans Erklärung erbrachte, dass nur 9,1 Prozent der Respondenten dem Vorschlag zustimmten, sich für die Armenier, "die 1915 ihr Leben verloren", zu entschuldigen und "zu akzeptieren, dass es sich um einen Genozid gehandelt" habe. Damit stehen weniger als ein Zehntel der Bevölkerung der Türkei hinter einer Anerkennung der Verbrechen von 1915 als Genozid - ein bequemes Alibi für die Staatsführung, um weiterhin die Anerkennung der "Ereignisse von 1915" als Genozid zu verweigern. Genau dies aber hat das Europäische Parlament in insgesamt vier Resolutionen seit 1987 zur Voraussetzung für den EU-Beitritt der Türkei und im Namen ihrer inneren und äußeren Stabilität gefordert.

Noten:
[1] Kévorkian, Raymond: The Armenian Genocide: A Complete History. London: Tauris, 2011, S. 811.
[2] Bayraktar, Seyhan: Politik und Erinnerung: Der Diskurs über den Armeniermord in der Türkei zwischen Nationalismus und Europäisierung. Bielefeld 2010, S. 38.
[3] Mustapha Kemal Pasha: Kemal promises more hangings of political antagonists in Turkey. "Los Angeles Examiner", 1 Aug. 1926.
[4] Hofmann Tessa, Armenians in Turkey Today, a.a.O., S. 15.
[5] Akcam, Taner: Retter des Vaterlandes. "die tageszeitung", 17.7.2001.
[6] In Reaktion auf Attentate der Jahre 1922 und 1925 wurde ein entsprechendes Gesetz am 29.05.1926 in die Große Nationalversammlung eingebracht und in mehreren Lesungen diskutiert. Vgl. auch www.aga-online.org/worship/miscellaneous.php?locale=de
[7] Vgl. eine Dokumentation zum türkischen Täterkult: www.aga-online.org/worship/index.php?locale=de
[8] Dixon, Jennifer M.: Education and National Narratives: Changing Representations of the Armenian Genocide in History Textbooks in Turkey, The International Journal for Education Law and Policy,Special Issue on "Legitimation and Stability of Political Systems: The Contribution of National Narratives" (2010), S. 110-112.
[9] Palazo?lu and Bircan, 1995, zitiert und übersetzt nach Dixon, a.a.O., S. 113.
[10] ASALA - Armenian Secret Army for the Liberation of Armenia:Die 1975-85 vor allem von Libanon und Syrien aus gegen türkische diplomatische Vertreter und Einrichtungen operierende "Geheimarmee" war zum Zeitpunkt der Çelik-Erlasse bereits zerschlagen.
[11] Dixon, a.a.O., S. 115.
[12] Zitiert aus: Kantian, Raffi: Völkerverständigung? Unmöglich mit den neuen türkischen Geschichtsbüchern. 16.11.2014 - www.deutscharmenischegesellschaft.de/2014/11/16/voelkerverstaendigung-unmoeglich-mit-den-neuen-tuerkischen-geschichtsbuechern
[13] Ebenda.
[14] Ebenda.
[15] Vgl. das am 07.07.2009 vom "Corriere della Sera" in der italienischen Stadt Aquila mit Erdo?an geführte Interview: - www.corriere.it/esteri/09_luglio_07/entrare_europa_69c041d4-6abb-11de-a24c-00144f02aabc.shtml und einen Kommentar www.aga-online.org/news/detail.php?newsId=318 (Zugriff: 29.12.2014)
[16] Vgl. den vollständigen Wortlaut auf der Webseite des türkischen Außenministeriums www.mfa.gov.tr/turkish-prime-minister-mr_-recep-tayyip-erdo%C4%9Fan-published-a-message-on-the-events-of-1915_-23-april-2014.en.mfa
[17] www.hurriyet.com.tr/dunya/27841379.asp

Aus pogrom-bedrohte Völker 285 (6/2014)