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Von denen keiner spricht

Unterdrückte Minderheiten - von der Friedenspolitik vergessen

Von Tilman Zülch

Bozen, Göttingen, 3. Dezember 2003

Von der Vernichtung des armenischen Volkes in der Türkei, über die Gaskammern des Dritten Reiches, den Deportationen und der teilweisen Ausrottung sowjetischer Kaukasusvölker durch den Stalinismus bis hin zu den Massenmorden an Amazonasindianern, Biafranern, Bengalen, Kurden und Eritreern in unseren Tagen durchziehen Verfolgung und Vernichtung von Minderheiten unser Jahrhundert. Sie ereigneten sich in feudalistischen und kapitalistischen Staaten ebenso wie unter dem "Sozialismus" Stalinscher Prägung. Seit der Niederlage des Nationalsozialismus und den Ansätzen der Entstalinisierung haben sich jedoch Verfolgungen von "rassischen und ethnischen" Bevölkerungsgruppen vor aIlem in den Ländern der Dritten Welt abgespielt.

Zwar lief die Entkolonialisierung in der Regel friedlich ab, doch die vergeblichen Versuche einiger Kolonialmächte, die Unabhängigkeit von Kolonialgebieten durch Anwendung militärischer Gewalt hinauszuzögern, führte zur Bildung von Befreiungsbewegungen, auf deren Widerstand die Kolonialarmeen - in Vietnam, Algerien, Kenia oder den portugiesischen Kolonien - mit Massenmorden an den Kolonialvölkern reagierten.

Inzwischen ist die formale Kolonialisierung - sieht man einmal von der spezifischen Situation im südlichen Afrika ab - nahezu abgeschlossen. Und doch können wir seit einigen Jahren vor allem in den Staaten der Dritten Welt ein neues Phänomen beobachten: die Minderheiten- und Nationalitätenprobleme haben dort derartig zugenommen, daß man heute, überspitzt formuliert, fast von einem weltweiten Aufstand gegen die bisher für stabil gehaltenen Grenzen, Staaten und Nationen der Dritten Welt sprechen kann - unter eben der Losung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, die vorher den Unabhängigkeitskampf der Dritten Welt begleitet hatte.

Dieser Aufstand wird von Völkern getragen, für die die Unabhängigkeit der Staaten der Dritten Welt oft nur einen Wechsel des Kolonialherrn bedeutet hatte. Gleichzeitig begehren alteingesessene überlebende Stammesvölker in Nord- und Südamerika und in Australien auf, kommt es in europäischen Randzonen zu Protestaktionen jener Völker, die bei der Bildung von Nationalstaaten übergangen und denen die Entfaltung ihrer sprachlichen und kulturellen Identität versagt wurde.

Verpaßte Entkolonialisierung
Die neuen Staaten der Dritten Welt "verdanken" ihre heutige Gestalt und ihre Grenzen überwiegend den früheren Kolonialmächten. Die Grenzziehungen in Asien, Afrika und Lateinamerika orientierten sich meist an strategischen und ökonomischen Interessen europäischer Staaten und an deren Militär- und Machtpotential. Dabei wurden häufig historisch gewachsene Regionen zerschnitten und ethnische Gruppe willkürlich auf mehrere Kolonialgebiete verteilt. So wurden die Somal Italienisch-Französisch - und Britisch-Somaliland, Kenia und Äthiopien überantwortet, die Kurden fanden sich in vier mittelöstlichen Staaten wieder, die Papuavölker Neuguineas bildeten zur Jahrhundertwende je eine niederländische, deutsche und britische Kolonie und tragen bis heute an den Folgen dieser in den europäischen Metropolen vor einem halben Jahrhundert getroffenen Entscheidung.

Vor der europäischen Kolonialära bestehende Abhängigkeitsverhältnisse - z.B. die arabische koloniale Durchdringung des schwarzafrikanischen Südsudan - wurden von den neuen - in diesem Fall britischen - Kolonialherren übernommen und bei der Entkolonialisierung bestätigt: die legitimen Forderungen der südsudanesischen VoIksgruppen wurden negiert, das Land dem weiterentwickelten arabischen Norden ausgeliefert. Schließlich wurden große Nationalitäten mit verschiedener Sprache, Religion und Gesellschaftsstruktur zu kolonialen Großräumen zusammengefügt, ohne aber befriedigende Ansätze zu unternehmen, die verschiedenartigen Sozialstrukturen - etwa das Feudalsystem Nordnigerias und die archaischen Dorfdemokratien des späteren Biafra - einander anzunähern.

Vielmehr wurden durch das Prinzip der "indirect rule" hier und der direkten Administration dort - die Gegensätze verstärkt oder durch regional beschränkte Entwicklung oder Christianisierung bestehende Unterschiede vergrößert. Auch die SeIektion nationaler Eliten durch die Kolonialmacht erfolgte eher dem Prinizip der Herrschaftsabsicherung als der gleichmäßigen Berücksichtigung aller Nationalitäten. Besonders wenig Aufmerksamkeit bei der Gewährung der Unabhängigkeit fanden auch jene sogenannten "primitiven" Bauernvölker, die aufgrund fehlender staatlicher Tradition und der Organisation ihrer Gesellschaften in Sippen oder Dörfern denkbar schlecht auf die staatliche "Unabhängigkeit" vorbereitet waren.

Die Situation dieser von uns als. Stammesvölker bezeichneten Gruppen - die gebräuchlichen Termini - Primitive oder Naturyölker dokumentieren den europäischen Kulturimperialismus - soll im folgenden besondere Aufmerksamkeit finden. Die willkürlichen Annexionen und Amputationen der Kolonialzeit erkIären zu einem guten Teil die Existenz yieler autonomistischer oder sezessionistischer Bewegungen in der Dritten Welt während der letzten Jahre in Bangladesh, Biafra, Belutschistan, Eritrea, Kurdistan, Mindanao, Mizostan, Nagaland, Ogaden, Pantschunistan, den Südmolukken, dem Südsudan oder Westpapua.

Die Entkolonialisierung verpasst aber haben auch die farbigen Ureinwohner jener überseeischen Gebiete, in denen die Alteingesessen durch europäische Einwanderung und durch Ausrottung entweder zu kleinen Minoritäten wurden (Indianer in Nordamerika und den meisten Staaten Lateinamerikas, Schwarzaustralier, Maoris in Neuseeland) oder zu einer seit Jahrhunderten trotz zahlenmäßiger Mehrheit aIs Minderheit behandelten und diskriminierten Unterschicht - so die Quetschua und Aimara der Andenstaaten, die heute in Bolivien und Peru in sozialrevolutionären Bewegungen vertreten sind.

Ein weiterer Teil der Dritten Welt wurde nicht in die Unabhängigkeit entlassen: der zaristische Imperialismus in Zentralasien wurde von einem neuen "sozialistischen" Vielvölkerstaat abgelöst, der die gemeinsame Existenz vom früheren Mutterland und Kolonialgebieten in einem Staatsgebiet befriedigend durch ein gleichberechtigtes Miteinander abgelöst haben soll. Die kollektive Deportation von acht sowjetischen Völkern unter Stalin - sieben von ihnen stammten aus dem Raum zwischen kaspischen Meer und Kaukasus und waren islamischer bzw. buddistischer Religion - nach Zentralasien und der bis heute andauernde massenhafte Kampf der Krimtataren und Meschier um die Rückkehr in ihre liquidierten autonomen Sowjetrepubliken - durchaus dem Kampf indianischer Völker der USA um ihre Landrechte vergleichbar - deutet darauf hin, daß dieser Anspruch nicht immer eingelöst wurde.

Die Stammesvölker
Unter den Völkern der "Vierten Welt" haben die Stammesvölker besonders dringliche Probleme. Etwa: die Pygmäen, die Buschmänner (San)t, die Gruppen des indischen "Stammesgürtels", die Bergstämme Vietnams, Laos, Burmas, Thailands, die Ureinwohner Australiens, die Eskimo, die Indianer Nordamerikas und des südamerikanischen Tieflandes. Die meisten dieser Völker haben jahrzehntelang, oft auch jahrhundertelang versucht, ihre Unabhängigkeit zu behaupten (bekanntestes, aber durchaus nicht einziges Beispiel: die Indianerkriege in den USA), wurden besiegt und versuchen heute mit neuen Mitteln (Beispiel: die Wounded Knee-Aktion der Sioux in den USA) einen Teil ihrer Rechte zurückzuerobern.

Dabei stoßen gerade die technologisch "rückständigsten" unter ihnen auf besondere Schwierigkeiten, so etwa: Ihre politischen Organisationsformen (Stammes-, Dorf-, Horden- o. ä. Verfassung) sind auf der internationalen Bühne nicht hoffähig, ihre Vertreter werden als "Stammeshäuptlinge" oder "Hordenchefs" kaum ernst genommen. Ihre soziale und rechtliche Ordnung wird bestenfalls mit der Geduld betrachtet, die man Kinderspielen entgegenbringt.

Auch die eigene Kultur dieser Gruppen wird höchstens als völkerkundliche Kuriosität respektiert. Die Diskriminierung wird in unserem Sprachgebrauch deutlich. Araber oder Chinesen haben für uns eine Sprache, "Neger" und Indianer aber eher "Dialekte"; in Nordirland oder auf Zypern sehen wir "nationale (oder religiöse) Konflikte", in Afrika aber nur "Stammeswirren" - uns selbst meist unbewußt unterscheidet unsere Sprache da ebenso fein, wie sie es mit "essen" und "fressen" zwischen Mensch und Tier tut.

Aufgrund der hinter diesem Sprachgebrauch stehenden Vorurteile stellen wir uns (und stellen sich die meisten Staatsvölker der "Dritten Welt") eine Gleichberechtigung dieser ethnischen Gruppen meist nur dergestalt vor, dass diese sich integrieren und wie wir werden. Das aber ist gerade für sie, die von uns wesentlich verschieden sind, schwierig.

Bei genauem Hinsehen verdeckt die Diskriminierung oder schlicht das Leugnen einer eigenständigen Existenz der Stammesvölker in vielen Fällen handfeste Interessen. Man erkennt einen australischen "Stamm" nicht als juristische Person an - und braucht sich nicht mit dessen Rechtsansprüchen auf ein eisenerzreiches Stück Land abzugeben. Man leugnet die Fähigkeit paraguayischer Indianer, selbst zu beurteilen, was gut für sie ist - und kann dann entscheiden, das Beste für sie seit, ein für die Bodenspekulation wichtiges Land zwangsweise zu verlassen. Landfragen sind es zumeist, in manchen Fällen auch der Wunsch, diese alteingesessenen Völker als billige Arbeitskräfte einsetzen zu können.

Mit der europäischen "Landnahme" auf den "neuen" Kontinenten begann die Vernichtung der alteingesessenen Völker im großen Stil. Ohne Ausnahme verschwanden die indianischen Bewohner fast aller Inseln Westindiens und die Ureinwohner Tasmaniens. Viele der indianischen Völker Nord- und Südamerikas, die SchwarzaustraIier und die Buschmänner des südlichen Afrika wurden dem jagdbaren Wild gleichgestellt und bis auf geringe Reste dezimiert.

Den landhungrigen europäischen Siedlern war die konventionelle Kriegsführung gegenüber den "Wilden" zu human, so daß sie schon damals - Jahrhunderte vor Vietnam - zur biologischen und ökologischen Kriegsführung übergingen: man verteilte von Blattern infizierte Decken an indianische.Stämme oder vernichtete systematisch Wild und Felder indianischer Bauern. Die überlebenden Indianer Nordamerikas z. B. wurden dem von den neuen Herren geschaffen "Büro für indianische Angelegenheiten" überantwortet, der Politik der Ausrottung folgte die Politik der Assimilierung; dem Genocid folgte der Ethnocid der Überlebenden.

Die Pflege der indianischen Kulturen wurde behindert, der Gebrauch der Muttersprachen wo immer möglich, untersagt, die kollektive Landbasis der Stämme durch eine Landaufteilungsverordnung zerstört, Reservate wurden aufgelöst; indianische Ländereien an Siedler verpachtet. So blieb den Überlebenden in den Reservaten bis heute soziale Apathie und weitverbreitete Trunkheit, eine hohe Kriminalitätsziffer, eine weit überproportionaler Anteil an den Gefängnisinsassen, eine extrem hohe Selbstmordquote, eine hohe Kindersterblichkeit und eine niedrige Lebenserwartung.

Noch im letzten Drittel des 20 Jahrhundertes ist in den USA die verbliebene Substanz der zusammengeschrumpften Stammesländer von Wirtschaftskonzernen und Großbauern bedroht, werden mit den Stämmen geschlossene Verträge gebrochen. Auch in den entlegenen Regionen Alaskas, des kanadischen Nordens und Inneraustraliens, die bisher vom Vordringen weißer Siedler verschont blieben, stoßen multinationale Konzerne auf der Suche nach Rohstoffen vor und gefährden die ökonomische Basis von Eskimos, Indianern, Aleuten und Uraustraliern.

Wie ungebrochen sich bis heute das Selbstverständnis der weißen Kolonisatoren gegenüber den alteingesessenen Völkern. erhalten hat, demonstrierte noch 1971 Australiens höchster Gerichtshof, als er im Hinblick auf die reichen Mineralvorkommen in den Stammesländern der "Aborigines" besimmte, dass diese kein Recht auf irgendweIches Land in Australien besäßen. Sozialistische wie kapitalistische Industriestaaten haben wenig Rücksicht auf alteingesessene "primitive" Gruppen genommen. In Japan.sind die Ainu auf 16.000 Seelen zusammen geschmolzen, in der UdSSR überlebte in den 3oer Jahren ein Drittel der kasachischen Nomaden nicht die "Sesshaftmachung", selbst Skandinaviens Lappen beklagen den "Raub" ihrer Landrechte.

Viele der Stammesvölker sehen als "Bürger" von Staaten der "Dritten Welt" einer zweifachen Unterdrückung ausgesetzt. Ais Völker der Entwicklungsländer teilen sie deren Schicksal der neokolonialen Abhängigkeit und wirtschaftlichen Ausbeutung. Als Subsistenzbauern, arme Jäger und Nomaden sind sie besonders schlecht auf das Eindringen "moderner" Technologien und Wirtschaftsformen vorbereitet und unter den neuentstandenen neokoloniaIen Eliten nicht repräsentiert.

Im Kampf gegen Befreiungs- und Emanzipationsbewegungen der Kolonialvölker setzten europäische Kolonialherren und amerikanische lmperialisten Stammensvölker als Söldner ein. Portugal bewaffnete Angolas Buschmänner gegen die angolesischen Freiheitskämpfer, die USA mobilisierten in Indochina Krieger der Meo und Montagnards gegen die Befreiungsbewegungen von Laos und Südvietnam. Gleichzeitig besprühte man ihre Felder mit Herbiziden, erklärte ihre Heimatgebiete zu "Feuer-Frei-Zonen" und verursachte so die Flucht ganzer Völker in die Elends- und Flüchtlingsquartiere der vietnamesischen Städte.

Insofern wiederhoIte sich das Schicksal der amerikanischen Ureinwohner an Völkern der indochinesischen Hochländer. Schon in den Indianerkriegen Nordamerikas hatte die US-Armee indianische Söldner-Regimenter zur Niederwerfung indianischen Widerstandes angeworben. Brasiliens überlebende Ureinwohner - weniger als 100.000 Indianer unter 100 Millionen Brasilianern - müssen heute dem doppelten Ansturm internationaler Konzerne, westlicher Großgrundbesitzer und verarmter brasilianischer Bauern weichen. Aus dem ökologisch schwer getroffenen Nordosten Brasiliens transportiert ein zur Lösung der brasiIianischen Landwirtschaftsprobleme unwilliges Militärregime unterernährte Pächter und Landarbeiter in die gerodeten Wälder des Amazonas, wo man dabei ist, die gleiche Einöde zu schaffen, ein Sandstaub- und Dürregebiet unvorsteIlbarer Größenordnung. Die Indianer, die den verletzlichen Tropenwald überlegt nutzten, werden in Reservate umgesiedelt.

Indiens Zentralregierung unterdrückt brutal den Widerstand der Mizos und Nagas an der burmesischen Grenze und ermordete Zehntausende von ihnen. Zaire verlieh seinen Pygmäen das zweifelhafte Privileg, den Wehrdienst in der nationalen Armee ableisten zu dürfen. Indonesiens Militärregierung führt einen blutigen Krieg in Westneuguinea, dessen schwarze Papuavölker sich zu einer nationalen Befreiungsbewegung von Westpapua zusammenschlossen.

Trotz ihrer großen Vielfalt haben die von uns als "primitiv" klassifzierten Kulturen vieles gemeinsam. Sie nutzen schwierigste Landschaftszonen, wie tropische Wälder, Wüsten oder die Tundren der Arktis und leben im Zustand der Selbstversorgung. Das besondere Verhältnis der sogenannten Primitiven zur Ökologie, eines Lebens im Einklang mit der Natur wird in Mark MünzeIs Beitrag über die Acheindianer Paraguyas deutlich.

Dieses "wilde" Indianervolk, dessen Mitglieder nicht erst seit 1972 gnadenlos verfolgt, versklavt und ermordet wurden, hat sich in Jahrhunderten optimal an die Natur des tropischen Regenwaldes angepaßt. Die Emanzipationsbewegungen nordamerikanischer Indianer und grönIändischer Eskimos haben das besondere Verhältnis ihrer Ahnen zu ihrer Umwelt zu einem zentralen Pogrammpunkt erhoben und treffen sich so mit der Umweltschutzbewegung in westlichen Ländern.

Diese Gesellschaften sind meist egalitär und kennen nicht die Extreme von Armut und Reichtum; das Land wird fast immer kollektiv zum Wohle der Gemeinschaft bewirtschaftet. Sie besitzen ein Wissen über Ursprünge menschlicher Gemeinschaften, das um so relevanter auch für westliche Gesellschaften werden könnte, je mehr Werte unseres Gesellschaftssystems in Frage gestellt werden. Selbstbewusst behauptet ein indianischer Historiker heute, den Zug zu Kommunen und Wohngemeinschaften in westlichen Ländern kommentierend: "Wenn ein Indianer sich die moderne Welt anschaut, stellt er einen unausweichlichen Trend zu Sozialstrukturen fest, in denen das Stammestum die einzige gültige Form überindividueller Beteiligung darstellt. Der Witz der Sache wird klar, wenn der Indianer merkt, daß er nur einen Schritt zur Seite tun muß, um die wilde Jagd vorbeizulassen, damit in Kürze Leute zu ihm kommen und ihm raten werden, er solle doch zum Stammestum zurückkehren".

Auch "Survival International", eine internationale Organisation für Überleben und Emanzipation von Stammesvölkern, betont, dass der Bürger industrialisierter Staaten nicht nur auf ökologischem Gebiet von ihnen lernen, sondern auch als soziales Wesen profitieren könne: "Indem die Industriegesellschaften planmäßig traditionelle Gesellschaf zerstören, beseitigen sie bewußt ein reiches Erbe menschlicher Erfahrung und menschlichen Wissens, das im Laufe von Jahrtausenden entstanden ist. Auf der einen Seite könnte man darauf hinweisen, daß die sozialen Systeme während des größten Teiles der menschlichen Geschichte dem der wenigen noch existierenden "primitiven" Gesellschaften ähnlicher waren, als dem der Industriegesellschaften. Auf der anderen Seite könnte man das technische Wissen der traditionellen Gesellschaften um die natürliche Umwelt hervorheben und darauf verweisen, dass noch viele dieser Erfahrungen uns unbekannt geblieben sind. Bis heute entsenden pharmazeutische Firmen Expeditionen z.B nach Südamerika mit der Hoffnung, neue Medikamente bei indianischen Medizinmännern zu entdecken.

Gemessen an einer bisher der Wissenschaft kaum zur Kenntnis genommenen Weite des Lebens bei den "Naturvölkern", müsste eine Überprüfung unserer allzu selbstbewußten Haltung einsetzen. Natürlich hätte das nur einen Sinn, wenn wir von unseren eingefleischten Vorstellungen und Maximen abrücken könnten, um uns aus der Sicht anderer Existenzweisen sehen und beurteilen zu können. Hier wäre ein Ansatz für kritische Betrachtungsweise unseres Daseins, der unser Verhältnis zu den Naturvölkern geradezu umkehren, uns zu Nutznießern einer Welt machen könnte, die wir bisher nur aus der Optik des ÜberIegenen, nicht aber zum Lernen Berufenen betrachten.

Auch so gesehen wäre das Aussterben der "Naturvölker" nicht nur ein bedauernswerter Prozeß, den wir aus menschlichen, aus moralischen Gründen verhindern soIlten, es wäre vor allem auch ein Verarmungsprozeß für uns selbst, heißt es in der 1974 erschienen Band "Kein Platz für wilde Menschen", von Peter Baumann und Helmut Uhlig. Versagt hat auf jeden Fall die traditionelle Ethnologie, gerade auch die deutsche. Das ethnologische Wissen um Stammeskulturen, Kulturwandel und Naturreligionen häuft sich in den Archiven. Indianer, Polynesier, Negritos und Buschmänner stehen als Puppen in den Schaukästen der Museen. Nach wie vor jagen Ethnologen völkerkundliche Skurrilitäten nach, während die Objekte ihrer Wissenschaft - yiele Stammesvölker - immer weiter dezimiert werden. Ökologen und Zoologen ist es gelungen, Interesse für die Erhaltung der Umwelt zu wecken oder Wildtiere für zukünftige Generationen zu erhalten. Nur winzige Organisationen jedoch kümmern sich um das Schicksal dieser Völker.

"Wenn es klar wäre, daß Stammesvölker in völliger Isolation von der heutigen Gesellschaft leben wollten, wenn sie es könnten", schreibt die Hilfsorganisation "survival international", "gäbe es keinerlei Rechtfertigung, in ihre Probleme einzugreifen." Doch die WirkIichkeit der Unterdrückung und Vernichtung macht lnterventionen zugunsten der Stammesvölker bitter notwendig, auch wenn betroffene Regierungen sie als eine neue Spielart des Kolonialismus abzutun versuchen.

In der berühmt gewordenen "Deklaration von Barbados", verfaßt von fortschrittlichen lateinamerikanischen Ethnologen, wird etwa für die Indianer Lateinamerikas ausdrücklich erklärt, dass sie bis heute einer koIonialistischen Herrschaft unterworfen sind von Regierungen, die ihrerseits abhängig von westlichen Metropolen sind. Die "Assimilierung, die heute Indianern Brasiliens und Papuas Indonesiens abverlangt, ist schon gestern in AustraIien und in Nordamerika gescheitert. So sind es in Nordamerika z.B. nicht von ungefähr in erster Linie die in die Städte ausgesiedelten Indianer, die - wie Claus Biegert in seinem Beitrag darlegt - die indianische Emanzipationsbewegung der "American Indian Movement" begründeten, die nach der Zurückweisung in den Städten zur "Überlegenheit" ihrer kulturellen Identität zurückfanden.

Die Assimilierung ist also keineswegs ein unvermeidlicher Prozeß, Stammesvölker sind durchaus bereit und in der Lage bei Erhaltung sozialer und kultureller Traditionen, sich wandelnden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen. Der zweite Beitrag Mark Münzels verdeutlicht, daß selbst Südamerikas Tieflandindianer Modelle solchen Kulturwandels bereits geschaffen haben. In einigen lateinamerikanischen Ländern entstehen heute nationale Indianerbewegungen, die indianischen Widerstand organisieren, um Landrechte kämpfen und neue Wirtschaftsformen für indianische Gemeinschaften schaffen. Weiterhin gibt es ein wachsendes Bewußtsein des gemeinsamen Schicksals der Stammesvölker.

Ein gemeinsamer Kongreß der arktischen Völker in Kopenhagen 1971 war ein erster Schritt in dieser Richtung. Diese Begegnung fand internationale Aufmerksamkeit. Ein zweiter Kongreß unter Beteiligung von südamerikanischen Indianern und Schwarzaustraliern, Maoris etc fand 1975 in Kanada statt. Es gibt viele Möglichkeiten, die Emanzipationsbewegungen dieser Völker zu unterstützen. Die wesentliche Veränderung der Situation wird dennoch nur von ihnen ausgehen müssen, denn sie können nicht auf die sicher korrekte Einschätzung des französischen Anthropologen Robert Jaulin warten, der schrieb: "Die Beendigung des Ethnocids wird sich nur bei einer Änderung, der westlichen Haltung gegenüber dem Universum einstellen."

Verbundsystem der Unterdrückung
"Um Biafra zu besiegen hat es den Nationen der Welt gefallen, einen langsamen Krieg des Hungers und der Krankheit zu betreiben. Sie haben zugesehen, wie ein Pseudo-Labour-Großbritannien und ein pseudo-sozialistisches Rußland miteinander wetteiferten, die tüchtigsten Leute und 'die mörderischsten Waffen zu schicken, damit die Mörder unter den besten Bedingungen arbeiten konnten. Verstümmelungen, Bombardements von Krankenhäusern und Marktplätzen, einfacher und nackter Mord, ganz zu schweigen von einer fast vollständigen Blockade - nichts wurde in diesem Kriege ausgelassen. Und er wurde durchgeführt mit der Billigung beinahe aller afrikanischen Staaten, arabischen Staaten, den Staaten der Dritten Welt, sozialdemokratischen Staaten und anderen - nicht zu vergessen, des Generalsekretärs der UNO, U Thant, der der großen Sache des Vereinten Erdöls in Nigeria seinen mörderischen Segen gab."

Mit dieser Erklärung kommentierte Jean-Paul Sartre nach dem Fall Biafras die bemerkenswerte Tatsache, daß sich eine neue weltweite KoaIition gegen den Versuch der Ibos zusammengefunden hatte, aus dem nigerianischen Staatsverband auszuscheren. Stanley Diamond analysiert in seinem Beitrag die Hintergründe dieses Bündnisses, einer "neuen heiligen Allianz", die sich gegen jede Bestrebung richtet, die kolonialen Grenzen von einst unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht in Frage zustellen. Als neues weltweites Verbundsystem der Unterdrückung finden sich immer wieder Staaten der Ersten, Zweiten und Dritten Welt gemeinsam mit internationalen Institutionen, Militärpakten und multinationalen Konzernen in wechselnden Konstellationen zusammen, um Aufständen von Minoritäten zu begegnen.

Weitere Minderheiten in der Dritten Welt haben in den vergangenen Jahren die Erfahrung der Jbos teilen müssen. Die kürzliche Liquidierung der kurdischen Befreiungsbewegung im Irak, zustande gekommen durch ein Übereinkommen der beteiligten Dritten Welt-Regierungen, erfolgte im Einklang mit östlichen und westlichen Interessen am irakischen Erdöl. Die Sowjetunion und zuletzt Frankreich hatten der irakischen Militärregierung die notwendigen Waffen und Militärberater zur Verfügung gestellt. Die Motivationen beteiligter Blöcke und Länder sind von Fall zu Fall verschieden, doch nur in Ausnahmefällen fand sich eine Konstellation, die das Aufbegehren einer nationalen Minderheit begünstigte. Bangladesh erreichte als erstes Volk der Vierten Welt seine Unabhängigkeit, obwohl es den islamischen, den arabischen Block, nahezu alle Länder der Dritten Welt, die Volksrepublik China, die USA und überwiegend die Staaten des Westens gegen sich hatte. Zwar fand sich in der UNO nur eine numerisch winzige Staatengruppe bereit; für die Interessen Bangladeshs einzutreten, doch das gemeinsame Interesse der Sowjetunion und Indiens an der Schwächung Pakistans ermöglichte schließlich die Schaffung eines politisch unabhängigen Staates der Ostbengalen.

Minderheitenkonflikte entstanden in zahlreichen Ländern durch die Kombination von Gruppendiskriminierung, politischer Unterdrückung und besonderer wirtschaftlicher Ausbeutung. So haben sich z.B. die politischen Führer der Bengalen, Kurden oder Westpapuas über die Funktion ihrer Heimatregionen als Rohstofflieferanten und Absatzmärkte beklagt und auf die besondere Benachteiligung ihrer Länder bei Infrastruktur und Industrialisierungsinvestitionen durch die Zentralregierungen hingewiesen. Zu Recht wird hier von der Existenz eines internen Kolonialismus gesprochen, gegen den sich autonomistische oder sezessionistische Bewegungen von Fall zu Fall auflehnen. Diese doppelte Unterdrückung erleichtert die Bildung von nationalen Emanzipations- und Befreiungsbewegungen, die auf verstärkte Repression häufig mit militärischem Widerstand reagieren.

Im Verlaufe des Befreiungskampfes versuchten solche Bewegungen - etwa die "Kurdische Demokratische Partei" des Irak (KDP) oder die "Eritreische Befreiungsbewegung" (ELF-PLF) - neben der Organisation der militärischen Guerilla; durch den Aufbau von Schulen, medizinischen Versorgungsstationen, von Marktkollektiven, soziale und edukative Errungenschaften zu etablieren, um der Bevölkerung schon während des Kampfes dessen Perspektiven verständlich zu machen. Insofern werden diese Bewegungen nicht nur wegen ihres autonomistischen oder sezessionistischen Charakters, sondern auch wegen ihres demokratischen und revolutionären Elementes von verkarsteten Regierungen der Dritten Welt als Bedrohung empfunden.

Zudem kollidieren durch die Entkolonialisierung neuetablierte Nationalismen mit den Ansprüchen von Minoritäten: etwa der Panarabismus mit dem Emanzipationsstreben der Kurder oder Südsudansen, der indonesische Nationalismus mit den nationalen Forderungen der Papuas oder der Souveränitätsanspruch Indiens mit den nationalen Befreiungsbewegungen der Naga und Mizos. Andererseits können diese neuetablierten Nationalismen auch Minoritäten außerhalb des eigenen staatlichen Bereichs begünstigen. So gibt es etwa panisIamische und panarabische Sympathien für die zur Hälfte islamischen Eritreer oder die islamischen Somal Ogadens.

Iraks Militärregime, konsequent bei der VerfoIgung der Kurden, lieferte Waffen an Äthiopiens Eritreeische Befreiungsfront. Im Prinzip existiert ein weitgehend Konsensus der Regierungen der Dritten Welt im gegenseitigen Interesse gemäß dem Prinzip der Nichteinmischung, Minderheitenkonflikte in Nachbarstaaten zu übersehen und diese nicht vor die Foren der Vereinten Nationen oder der Organisation für afrikanische Einheit zu bringen. So hat z.B der Massenmorden an 200.000 Wahutus in Burundi 1973 keinerlei Reaktionen afrikanischer Regierungen ausgelöst, während das von der portugiesischen Armee begangene Massaker von Wiriyamu an 400 Afrikanern weltweite Proteste nach sich zog. Die OAU beglückwünschte Burundis Präsidenten Micombero zum Mord an den Hutubauern, hintertrieb eine friedliche Lösung des Biafrakonfliktes und verweigerte jahrelang die Diskussion der Vorgänge im Südsudan. Somit wurden die drei blutigsten Konflikte in Schwarzafrika im Ietzten Jahrzehnt, denen zusammen etwa 3 Millionen Afrikaner zum Opfer fielen, von der OAU übergangen, die andererseits im südlichen Afrika für die Befreiung der unterdrückten farbigen Mehrheiten auftritt.

Längst sind einige der Unterdrückten von gestern bzw deren Exponenten zur Unterdrückern von heute geworden. So arrangierten die Algerier, deren Befreiungsbewegung noch vor einem Jahrzehnt den französischen Imperialismus bekämpfte; die irakisch-iranische Entente, die den militärischen Zweig der kurdischen Befreiungsbewegung des Irak zerstörte, beteiligte sich Nassers Ägypten in den späten 60er Jahren an militärischen Aktionen gegen Kurden, Südsudanesen und Biafraner. Selbst eine Delegation des Weltkirchenrates; sonst Anwalt der Opfer des Rassismus im südlichen Afrika, leugnete im Herbst 1974 die Existenz eines bewaffneten Konfliktes in Irakisch-Kurdistan und bestritt nach dem kurdischen Zusammenbruch entgegen "amnesty international" und der "Internationalen Liga für Menschenrechte" vorliegenden Materialien Hinrichtungen, Folter und Konzentrationslager, während dieselben "Vereinten Nationen", die für Namibia nationale Selbstbestimmung fordern, den irakisch-iranischen gegen die kurdische Befreiungsbewegung gerichteten Vertrag begrüßten.

Regierungen, die sich mit Widerstandsbewegungen ihrer nationalen Minderheiten konfrontiert sahen, haben fast immer versucht, für deren Entstehung die früheren Kolonialmächte, andere imperialistische Staaten oder auch den Kommunismus dieser oder jener Prägung verantwortlich zu machen. Besonders in Afrika sollten mit dem geflügelten Wort vom zweiten Katanga sezessionistische Bewegungen wie die südsudanesische oder die biafranische diskreditiert werden. Der Fall Katanga, wo belgische Konzerne schließlich dabei scheiterten, sich den reichsten Teil des Kongo als ökonomische Basis zu erhalten und deshalb separatistische Tendenzen schürten, gilt zu Recht, als klassisches Beispiel einer von außen provozierten Sezession.

In der Regel sind aber die Industriestaaten und früheren Kolonialmächte eher an der Erhaltung der aus der Kolonialzeit ererbten Grenze - Beispiel Nigeria - als an deren Veränderung interessiert. So hat Connor O'Brian, der den Biafrakessel während des Krieges zweimal besuchte und der während der Kongokrise als UN-Vertreter für die Einheit des Kongo wirkte, in seinen Veröffentlichungen zum Biafrakonflikt nachgewiesen, daß dort nicht die Sezession Biafras, sondern die Erhaltung der "Einheit" Nigerias im Interesse der früheren Kolonialmacht und der in Nigeria dominierenden britischen Konzerne lag. Eine breite Allianz auswärtiger Mächte ermöglichte die Wiederherstellung der nigerianischen Einheit und zerstörte die autochthone biafranische Unabhängigkeitsbewegung.

Ironischerweise versicherten sich gerade jene Regierungen, die zu Unrecht das Aufbegehren ihrer nationalen Minderheiten auswärtigen Staaten in die Schuhe schoben, der militärischen und ökonomischen Unterstützung westlicher Regierungen oder der sozialistischen Großmächte, um den Widerstand ihrer Minoritäten niederzuschlagen. So nahmen die Regierungen des Irak, des Sudan, Nigerias, Äthiopiens, Pakistans, Indiens und Indonesiens Militärhilfe und Militärberater in Anspruch, statt rechtzeitig mit Kurden, Südsudanesen, Biafranern, Eritreern, Bengalen, Nagas oder Papuas Kompromißlösungen auszuhandeln. Insofern fällt der an die nationalen Minderheiten gerichtete Vorwurf der Abhängigkeit von imperialistischen Mächten auf eben diese Staaten zurück. Die Inanspruchnahme militärischer Hilfe von außen zur gewaltsamen Lösung der Minoritätenkonflikte im Innern führte gewöhnlich zur Verstärkung der technologischen und ökonomischen Abhängigkeit der Staaten der Dritten Welt.

Die Bereitschaft der sozialistischen Großmächte entgegen dem Leninischen Nationalitätenprinzip vom Widerstandsrecht unterdrückte Völker gleich westlichen Regierungen Repressionsfeldzüge gegen Befreiungsbewegungen nationaler Minderheiten zu unterstützen, ist in den letzten Jahren deutlich geworden. Die Sowjetunion hat vor 1967-1970 zusammen mit der Regierung Wilson die Politik der Aushungerung Biafras und des Hungermordes an fast zwei Millionen Ibos durch Militärhilfe und diplomatische Schachzüge ermöglicht. Sie ließ sowjetische Piloten 1970-71 im Rahmen der sudanesischen Luftwaffe afrikanische Dörfer im Südsudan bombardieren und lieferte der irakischen Armee und Luftwaffe 1974-75 die modernsten Waffensysteme - darunter Phosphor und Napalm, mit der diese 500 kurdische Bauernsiedlungen zerstörte.

Die Volksrepublik China begünstigte den Überfall der pakistanischen Armee auf Ostpakistan, dem zwei bis drei Millionen Bengalen zum Opfer fielen. Trotz der chinesischen Waffenlieferungen und der zynischen Grußadresse Tschou Enlais an Pakistans Generale, musste Pakistan Bangladesh aufgeben. Andererseits sympathisierte die Volksrepublik China mit dem Kampf Biafras gegen "sowjetischen Sozialimperialismus und angelsächsischen Neokolonialismus" und bildete Angehörige der Naga-Befreiungsarmee militärisch aus, während die UdSSR zusammen mit Indien die Unabhängigkeit Bangladesh erzwang und die "Demokratische Partei Kurdistans" so lange für fortschrittlich erklärte, wie der Irak von antisowjetischen Regimes beherrscht wurde.

Die Preisgabe internationalistischer Prinzipien zugunsten strategischer und ökonomischer Interessen durch die Sowjetunion beklagte der Vertreter einer kurdischen Studentenvereinigung: "Mit einer pseudosozialistischen Diktatur faschistischer Prägung kann sich Moskau eben besser verbünden als mit freiheitsliebenden, aber wirtschaftlich schwachen kurdischen Bauern, Hirten und Arbeitern, womit wieder einmal gezeigt wird, wie ernst es die sowjetischen Machthaber mit dem Sozialismus meinen".

Deutsche Politik: Humanitäre Hilfe und Waffenlieferungen
"Ich zweifle daran, ob wir berechtigt sind, feierlich jenen Toten zu gedenken, die Opfer des Völkermords geworden sind, wenn es uns nachweislich nicht gelingt, Völkern die in unserer Gegenwart sterben, über jene Grenze hinaus beizustehen, die unserem karitativen Impuls durch innen- und außenpolitische Rücksichten gesetzt werden. Was werden wir sagen, wenn, was wir jetzt schon ahnen; in einigen Jahren nachgewiesen und natürlich gleichzeitig dementiert wird; dass in Biafra in unserer Gegenwart ein Völkersterben stattgefunden hat, dass keine Gipfelkonferenz einberufen wurde; es zu verhindern? Wenige Tage nach der Beendigung des Bürgerkrieges dort habe ich ein Bild von brutaler Obszönität gesehen, eine wieder in Gang gesetzten Bohrturm, der triumphierend seinen Kolben in den Schoß der Erde stieß. Dieses Bild sagte, es ist alles wieder normal; das bedeutet, die alten Herrschaftsverhältnisse sind wieder hergestellt, der alte Rahmen wieder festgefüqt, das Tabu der Innenpolitik ist gewahrt worden, keine Einmischung in .die Außenpolitik ist erfolgt, die gewöhnlich der Hebel der Wirtschaftspolitik ist. Als Zeitgenosse und verstrickt mit dem Wirtschaftssystem, in dem ich lebe, nehme ich an der Herrschaft dieses Bohrturms teil. Wer hätte sich in Hitlers Vernichtungspolitik eingemischt, wäre sie Innenpolitik geblieben? Manche Politiker und Diplomaten finden es unqehörig; wenn ein Deutscher, in dessen Zeitgenossenschaft Auschwitz fiel, sich in die Politik anderer Länder einzumischen wagt. Soll Auschwitz auf diese Weise zur Brüderlichkeit oder sollte es nicht zum Anlaß für sie werden?"

Mit diesen Worten beschwor Heinrich Böll 1970 anläßlich der Woche der Brüderlichkeit die besondere Verpflichtung unseres Landes, das sich seiner "rassischen" Minderheiten durch Völkermord entledigte, zur Beendigung oder Verhinderung gegenwärtiger Völkermorde beizutragen. Mit einem bequemen Bekenntnis zu Israel und dem offiziell gepflegten Philosemitismus haben deutsche Regierungen erfolgreich die Vernichtung von Völkern in Übersee und die Mitverantwortung deutscher Politik aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verdrängt.

Die Bundesrepublik Deutschland ist durch umfangreiche wirtschaftliche Interessen an die Staaten der Dritten Welt gebunden und nimmt mit anderen Industriestaaten an deren Ausbeutung teil. Bereits in der ersten Hälfte der 60er Jahre leisteten von der CDU geführte Bundesregierungen militärische Ausrüstungshilfe an afrikanische Staaten, u.a. an Äthiopien, Nigeria und den Sudan, für die das Bundesministerium für Entwicklungshilfe zuständig war. Die Militärhilfe an den Sudan im Werte von 123 Millionen DM erfolgte auf dem Höhepunkt der von der sudanesischen Armee an den Sudsudanesen begangenen Massaker. Deutschen Waffen und von der Bundeswehr ausgebildeten sudsudanesischen Offizieren und Piloten dürfte ein wesentlicher Teil der mindestens 500.000 ermordeten Südsudanesen zum Opfer gefallen sein.

Auch nigerianisches Militärpersonal, darunter Piloten, wurden in Deutschland ausgebildet, und war insofern für den Ernstfall, den 1967 folgenden Biafrakrieg, ausreichend vorbereitet. Die deutschen Waffenlieferungen an das faschistische Portugal auch durch sozialdemokratische Regierungen, die gegen die Schwarzafrikaner Angolas und Mocambiques Anwendung fanden, sind dank des Umsturzes in Portugal bekannt geworden. Daß der offiziellen deutschen Weigerung, Waffen in Spannungsgebieten zu liefern, ein besonderer deutscher Weg, durch den Aufbau von Munitionsfabriken an der Militarisierung der Dritten Welt teilzuhaben, gegenübersteht, bleibt jedoch weithin unbeachtet. Die bundeseigene "Fritz Werner GmbH" baute Munitionsfabriken u.a in Indonesien, Nigeria, dem Sudan, Pakistan und inzwischen auch im Iran.

Den Feldzügen der vier erstgenannten Staaten gegen Befreiungsbewegungen nationaler Minderheiten fielen - bisher - mindestens fünf Millionen Angehörige dieser Gruppen zum Opfer. Indonesien bekämpft weiter die Befreiungsfront der Papuas, Pakistan führt "Befriedungsaktionen" gegen Belutschen und Paschtunen - der Iran unterstützt den Kampf Omans gegen die Befreiungsbewegung von Dhofar und die pakistanische Regierung gegen die Widerstandsbewegung der Belutschen - u.a. mit deutscher Munition.

Als während des Biafrakonfliktes die Regierung Kiesinger-Brandt durch die fortgesetzte Bewilligung öffentlicher Millionen für die karitative Biafrahilfe die Empörung breiter Schichten der Bevölkerung, die sich vor allem auch gegen die britische Unterstützung der nigerianischen Hungerblockade richtete, erfolgreich entpolitisierte, traf ein deutscher Entwicklungshelfer zwanzig deutsche Techniker aus Geißenheim im Rheingau zur Wartung der von der "Fritz Werner GmbH" errichteten einzigen Munitionsfabrik in Nigeria an. (Außerdem warteten 10 deutsche Flugtechniker der Firma Dornier, Pfaffenhofen bei München, die nigerianischen Bomber sowjetischer Herkunft in Kaduna, deren Opfer einige zehntausend biafranische Zivilisten wurden.) Es mag reiner Zufall gewesen sein, daß der britische Premier Wilson im Februar 1969 bei seinem Deutschlandbesuch ausgerechnet den Westberliner Zweig der "Fritz Werner GmbH" besichtigte, während vor den Toren der von der Polizei gesicherten Fabrik Biafrakomitees gegen die britische Biafrapolitik demonstrierten.

Auch die deutsch-französische Gemeinschaftsproduktion von Militärgütern findet bei kriegerischen Auseinandersetzungen in der Dritten Welt zunehmend Verwendung. Zuletzt kamen solche Waffen, darunter Alouette-Hubschrauber, Raketen etc. gegen die Kurden des Irak zum Einsatz. Es erscheint müßig zu fragen, warum es in der Bundesrepublik Deutschland im Gegensatz zu den Ländern Skandinaviens oder den Niederlanden unmöglich ist, die Bundesregierung oder nur eine der großen Parteien gegen Massenmorde in Übersee zu mobilisieren. Die Mitverantwortung der Firma Hoechst für die Vernichtung der Ache´-Indianer Paraguays erklärt die offiziellen Lügen des Staatssekretärs Moersch. Die Steigerung der deutschen Exporte um 811 % in den Irak seit Anfang 1975 verdeutlicht die Haltung Herbert Wehners, die Kurdenverfolgungen als innere Angelegenheit des Irak zu betrachten. Was hätte der Emigrant Herbert Wehner 1933-45 über jene geäußert, die die Judenverfolgungen als "innere Angelegenheit" Hitlerdeutschlands abtun wollten?

Auschwitz ist in der Bundesrepublik nicht zum Anlaß der Brüderlichkeit geworden. Selbst überlebenden osteuropäischen Juden, die in der Bundesrepublik anklopften, wurden 1975 die Aufenthaltsgenehmigungen versagt, es sei denn, sie konnten ihre deutsche Volkszugehörigkeit nachweisen, während Behörden in Köln sogar alteingesessenen sogar alteingesessenen Kölnern "Zigeunern", die die Konzentrationslager des Dritten Reichs überlebten, 1950-67 die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen.

Bleibt nachzutragen, daß die DDR blind der oben skizzierten sowjetischen Außenpolitik folgte und an Waffenlieferungen und der Bereitstellung von Beraterpersonal beteiligt war. Wie die UdSSR werden auch in den Medien der DDR systematisch solche Befreiungsbewegungen nationaler Minderheiten diffamiert, deren Existenz sowjetischen Interessen entgegensteht. Selbst in wissenschaftlichen Veröffentlichungen finden sich derartige unwissenschaftliche Polemiken wieder.

Die europäische Linke: Verweigerte Solidarität?
Der Kampf Biafras ist heute der Kampf der Linken in der ganzen Welt. Wenn die Linke so tut, als gehe sie daran vorbei und wenn sie die Augen vor diesem Völkermord verschließt wie übrigens vor vielen Stammes- und Gruppenmorden auf ethnischer Grundlage, die sich heute in Afrika und Südamerika ereignen, wird sie ihre anderen Aktionen in unheilvoller Weise pervertieren, d.h sie wird als Linke gar nicht mehr existieren.

Diese Erklärung von 22 französischen Linksintellektuellen (November 1968) veröffentlicht in "Le Monde" weist auf eine wunde Stelle der europäischen Linken. Wo sich an Völkern der Dritten Welt begangene Kriegsverbrechen, wo sich der Befreiungskampf nationaler Widerstandsbewegungen nahtlos in in den antiimperialistischen Kampf fügen ließ - in Algerien, Vietnam, Kambodschda oder Mocambique - , veranstaltete die Linke gewaltige Solidaritätsaktionen: Informationskampagnen, Demonstrationen, materielle Hilfe.

Wo hingegen ethnische Gruppen im letzten Jahrzehnt sich gegen Unterdrückung erhoben, wo sie völkermordartigen Verbrechen ausgesetzt waren, wo sich Befreiungsbewegungen nationaler Minderheiten gegen Regimes der Dritten Welt und - häufig gegen deren Alliierte in West oder Ost zur Wehr setzen, versagte die orthodoxe Linke im großen und ihre Solidarität. Die Probleme der Biafraner, Kurden, Südsudanesen, Eritreer, der Nagas wurden gewöhnlich kaum beachtet, häufig genug wurde ihre Unterdrückung oder Verfolgung zudem zynisch legitimiert, wurde die denunzierende Propaganda der Verfolger kritiklos übernommen.

Die Standpunkte der orthodoxen Linken Moskauer oder Pekinger Richtung, etwa die Hasserfüllte Kampagne der DKP-treuen Organisationen und Blätter der BRD gegen die kurdische Befreiungsbewegung 1974/75, die die an den Kurden begangenen zahlreichen Kriegsverbrechen bewusst unterschlug, als auch die Solidarität "maoistischer" Gruppierungen mit den chinesischen Waffenlieferungen an die pakistanischen Generale während des Überfalls auf Ostbengalen (1971), orientierten sich konsequenterweise an den strategischen ' Interesse der jeweiligen sozialistischen Metropole.

Wie ist die Zurückhaltung der organisierten orthodoxen Linken erklärbar? Warum wird dem Wiederstand vieler ethnischer Minoritäten die Solidarität versagt, derer sie häufig um des bloßen physischen Überlebens willens so dringend bedürfen, warum wird die objektivierbare nationale ökonomische und politische Unterdrückung nationaler Minoritäten so selten untersucht, warum werden Halbwahrheitent und Entstellungen so bereitwillig übernommen?

Es scheint, dass die verhärteten politischen Gruppierungen in Westeuropa Widerstandsbewegungen in der Dritten Welt eher durch Kategorien interpretieren, die aus politischen Bedürfnissen dieser Gruppierungen abgeleitet sind als aus den inneren Bedingungen der zu untersuchenden Bewegungen. So werden Befreiungsbewegungen nationaler Minderheiten eurozentrische Bestimmungen übergestülpt und möglichst alle Tendenzen übergangen, die- sich dem Streben nach vereinheitlichender Interpretation nicht fügen. Dabei wäre gerade aus den inneren Reaktionsbedingungen vornehmlich bäuerlicher Gesellschaften die Berechtigung ihres Kampfes zu beurteilen.

Wer jedoch vorab den Interpretationszusammenhang autoritär vorgibt, der dichtet sich gegen die eigentliche Problematik unterdrückter Minderheitsgesellschaften ab. Wo die Frage nach Bedürfnissen und MögIichkeiten betroffener Völker stehen müßte, werden statt dessen Interpretationsraster gesetzt, aus denen einfach herausfällt, was nicht innerhalb des alles beherrschenden Widerspruchs zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu liegen kommt. Auf indirekte Weise sagt die Methode der Betrachtung allerdings mehr über den Zustand betreffender linker Gruppierungen als über ihre Analyseobjekte aus.

Einige dieser immer wiederkehrenden, an der Oberfläche bleibenden Interpretationsraster sollen hier erwähnt werden. Die Berechtigung des Wiederstandes einer unterdrückten oder verfolgten ethnischen Minderheit wird an denjenigen Kräften gemessen, die sie militärisch oder politisch unterstützen. Beispiel: das iranische Schahregime unterstützt die kurdische Bewegung des Irak, also ist diese "proimperialistisch". Hinterfragt wird nicht die kurdische Situation im Irak - wie es Kurt Greussing in seinem Kurdenbeitrag unternimmt -, sondern vielmehr wird von den zufälligen Allianzen, die im Falle der Kurden je nach den strategischen Interesse der beteiligten Mächte ständig wechselten, auf den Charakter der Befreiungsbewegung geschlossen.

Weiterhin wird Widerstands- oder Bürgerrechtsbewegungen ein sozialistisches oder marxistisches Bekenntnis abverlangt und eine Bewegung, die solches nicht erbringt, für reaktionär befunden, Beispiel: die Befreiungsbewegung fast durchweg analphabetischer südsudanesischer Bauern und Hirten wurde zwei Jahrzehnte nicht zur Kenntnis. genommen, obwohl sie ohne irgendwelche nennenswerte Hilfe von außen sich der Unterstützung der südsudanesischen Bauernmassen erfreute und militärisch wesentlich erfolgreicher war als manche der von links favorisierten Befreiungsbewegungen.

Schließlich werden sezessionistische Bewegungen verdammt, weil ihr "Separatismus" die "antiimperialistische Front" der Länder der Dritten schwächt, die jeweilige Begründung des sezessionistischen Anspruchs aber wird außer acht gelassen, obwohl der Ruf nach der Separation gewöhnlich das totale Scheitern eines multinationalen Staatskonzeptes offenbart.

Dieses Beharren auf einstmals von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen auch gegen den ausdrücklichen Willen unterdrückter Völker der Dritten Welt, widersprach selbst Lenin, der entschieden das Postulat Recht auf Sezession befürwortete: "Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen bedeutet ausschließlich das Recht auf Unabhängigkeit im politischen Sinne, auf die Freiheit der politischen Abtrennung von der unterdrückenden Nation. Konkret bedeutet diese Forderung der politischen Demokratie die volle Freiheit der Agitation für die Abtrennung und die Lösung der Frage über die Abtrennung durch das Referendum der betreffenden, d.h. der unterdrückten Nation. Sie ist nur ein folgerichtiger Ausdruck für den Kampf gegen jegliche nationale Unterdrückung", und fügte hinzu, es sei selbst dann nicht auf die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen zu verzichten, wenn der Kampf ´für die nationale Freiheit´ unter bestimmten Bedingungen von einer anderen Großmacht für ihre ebenfalls imperialistischen Ziele ausgenutzt werden kann."

Das Unvermögen der meisten orthodoxen linken Gruppierungen, Solidarität gegenüber ethnischen Minoritäten zu üben, denen Ethnocid oder Genocid oder auch nur nationale Unterdrückung droht, offenbart ein gebrochenes Verhältnis zur Humanität. Während sich etablierte Parteien und Regierungen vor ihrer nationalen Öffentlichkeit durch die Leistung humanitärer Hilfe von der Bürde der Humanität freikaufen - statt für den Stopp britischer Waffenlieferungen an Nigeria zu sorgen, erhalten deren biafranische Opfer Milchpulver -, nehmen viele orthodoxe linke Gruppen im Namen des Dogmas von der Humanität Abschied. Nur so ist zu erklären, dass große TeiIe der Linken vor vielen Gruppen- und Stammesmorden auf ethnischer Grundlage die Augen verschließen.

Ein skurriles Beispiel: Als die britische Labourregierung die Agonie Biafras inszenierte und der britische Premier seine nigerianischen Vasallen im Hafen von Lagos auf einem Kriegsschiff empfing, veranstaltete die britische Linke Vietnam-Massendemonstrationen, von den leidenden biafranischen Brüdern, den Opfern von Shell-BP, Unilever, von Labour und Breschnew war nicht die Rede.

Dieser verweigerten Solidarität stehen zwei wegweisende Beispiele auch für die Zukunft gegenüber. Chile und Prag, zwei durch den lmperialismus zu Fall gebrachte Versuche, demokratischen Sozialismus zu verwirklichen, bewältigten ihre Minderheitenprobleme und nahmen politische Nachteile in Kauf, um für die Interessen von Minderheiten in Übersee einzutreten. Die sozialistische Regierung Chiles gab den Mapuche ihre Ländereien zurück - später nach dem faschistischen Putsch wurden zweieinhalbtausend von ihnen ermordet - Allende protestierte bei der sowjetischen Regierung gegen die Diskriminierung der Juden. In Prag sorgte man für die Gleichberechtigung der ungarischen, polnischen und deutschen Minderheit - die Regierung Dubcek stoppte als erstes Land aus humaner Motivation die Waffenlieferungen an Nigeria - nach der sowjetischen Invasion wurden sie im Februar 1969 wieder aufgenommen.

Kirchen für Minderheiten?
Einige "Rebellionen" von Minderheiten in der Dritten Welt während der letzten Jahre gingen von christianisierten VöIkern aus - von Biafranern, Nagas oder Wahutus - oder von Völkern mit christianisierten Eliten - wie Südsudanesen oder Papuas. Westliche Kirchen sind von den betroffenen Regierungen beschuldigt worden, diese Konflikte geschürt zu haben. Untersucht man diese Vorwürfe, bleibt kaum mehr als die lntentionen dieser Staaten, für innere Schwierigkeiten äußere Faktoren verantwortlich zu machen.

ChristIiche Nagas, Papuas oder Südsudanesen haben im Gegenteil zu Recht das Schweigen, das Desinteresse oder die Hilflosigkeit europäischer oder amerikanischer Mutterkirchen zu den Genociden an ihren Völkern verurteilt. Der Vatikan hat zwar gegen die Ausweisung katholischer Missionare aus dem Südsudan protestiert, sich aber andererseits immer wieder mit sudanesischen Regierungen im Interesse der Missionsschulen im arabischen Nordsudan und den dortigen christlichen Minderheiten auf Kosten der Südsudanesen zu arrangieren versucht.

Ein von den Verona-Vätern herausgegebener Südsudan-Informationsdienst, der systematisch Informationen über den an den Südsudanesen begangenen Genocid gesammelt hatte, musste auf Intervention des Vatikans hin eingestellt werden. Man wird dem Vatikan wie dem Weltkirchenrat angesichts der furchtbaren Massaker im Südsudan den Vorwurf nicht ersparen können, aus diplomatischen Erwägungen gegenüber der arabischen Welt übermäßige ZurückhaItung geübt zu haben.

Auch die frag würdige Rolle des Weltkirchenrates beim Zustandekommen des Friedensabkommens im Südsudan kann dieses Versagen nicht aufheben. Im übrigen scheinen politische Rücksichtsnahmen der Kirchen etwa auf die indischen, indonesischen oder irakischen Christen ein Eintreten gegen Verfolgungen von Nagas, Papuas oder Kurden verhindert zu haben.

Der Biafra-Konflikt provozierte eine außerordentliche Welle der Solidarität der Öffentlichkeit vieler westlicher Staaten mit der Sache Biafras, während deren Regierungen mit ganz wenigen Ausnahmen mehr oder weniger offen die nigerianische Zentralregierung unterstützten. Den Plan zur Aushungerung Biafras versuchten 35 vorwiegend kirchliche Hilfsorganisationen aus 31 Staaten mit der Einrichtung einer internationalen Luftbrücke, der "joint church aid", in den Biafrakessel zu vereiteln. Dabei setzten sie neue beispielhafte Maßstäbe der Humanität insofern, als sich ihre Luftbrücke über den nationalen Souveränitätsanspruch Nigerias hinwegsetzte. Der zweite, in der Konsequenz notwendige Schritt, die Verantwortlichkeit westlicher Regierungen und multinationaler Konzerne für die Abschnürung Biafras herauszustellen und international anzuprangern, unterblieb oder wurde nur in zaghaften Ansätzen unternommen.

Nach dem militärischen Zusammenbruch - nichts zählt in unseren Leistungsgesellschaften mehr als der Erfolg (Yakubu Gowon und HaroId Wilson blieben erfolgreich, Adolf Hitler war es nicht, darum schrieb Afrikas vielleicht bedeutendster Schriftsteller, der Biafaner Chinua Achebe, nach dem Kollaps Biafras ein Gedicht "Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte") - konnte der zynische, an die beteiligten Kirchen erhobene Vorwurf des nigerianischen Diktators, die kirchliche Hilfe hätte den Krieg verlängert und die Zahl der Opfer erhöht, nicht ausbleiben. Den ganzen Zynismus dieser Argumentation entlarvte das gleichzeitige nigerianische Verbot, die Kirchenhilfe für die Hungergebiete fortzusetzen, das noch einmal den Hungertod Tausender zur Folge hatte.

Heute ist der Vorwurf des siegreichen nigerianischen Staatschefs vielerorts zu hören, auch von innerhalb der Kirchen, obwohl gerade jene Stimmen bisher einer kritischen Auseinandersetzung mit den Hintergründen des Biafrakonfliktes ausgewichen sind. Die Angst vor der eigenen Courage nach dem verlorenen Biafrakrieg hat die Kirchen so seht verunsichert, daß sie während der folgenden Krisen in Ostbengalen (1971) und in Kurdistan (1974/75) die nationale Souveränität der Zentralregierungen nicht mehr in Frage stellten und die eingeschlossene kurdische und bengalische Zivilbevölkerung nur ungenügend unterstützen konnten.

Mit dem Antirassismusprogramm, dem Eintreten für die Opfer des weißen Rassismus im südlichen Afrika und für indianische und schwarz-australische Minderheiten hat der Weltkirchenrat begonnen, Völkern, die Opfer des Rassismus geworden sind, mit einem Hilfsprogramm beispielhafte Unterstützung zuteil werden zu lassen. Gleichzeitig negiert der Rat aber ständig, völkermordähnliche Verbrechen in Asien und Afrika, wie etwa den Massenmord an Burundis Hutus, oder begünstigte die irakische Aggression gegen die Kurden. Diese "selektive" Humanität ist durch das verstärkte Gewicht osteuropäischer und afrikanischer Mitgliedskirchen im Rat erklärbar.

Erfreulichere Perspektiven eröffnet der Weg vieler katholischer Kirchen in Lateinamerika, sich dem Problem der doppelten Unterdrückung der indianischen Völker zu stellen und deren Bürgerrechts- und Bauernbewegungen zu unterstützen.

Der europäische Nationalstaat für die Dritte Welt?
Minderheitenkonflikte in Europa haben seit Kriegsende nicht mehr zu Massenmorden an ethnischen Gruppen geführt. Der Kampf der baskischen ETA gegen spanischen Faschismus für ein unabhängiges sozialistisches Baskenland und die Rebellion der Kampforganisationen nordirischer Katholiken gegen ein britisch regiertes Nordirland - verdeutlichen, dass selbst in Westeuropa gewaltsame Erhebungen nationaler Minderheiten möglich sind.

In vielen westeuropäischen Staaten beklagen ethnische Gruppen die Bedrohung ihrer nationalen Identität, ihrer Sprache und Kultur oder auch die ökonomische Vernachlässigung ihrer Regionen. Die Klagen der Basken und Katalanen, der Korsen und Bretonen, der Kärntner Slowenen und Südtiroler, der Schotten und Waliser machen bewußt, dass in Westeuropa Minderheitenprobleme - mit Ausnahmen wie der Schweiz, die ihren aufsässigen Franco-Jurassiern gerade einen eigenen Kanton zusagte - nicht überzeugend gelöst sind.

In den sozialistischen Staaten Osteuropas dominiert weithin der Nationalismus der Staatsvölker: Polens Regierung versagt seinen 300.000 nach 1945 deportierten Ukrainern die Rückkehr in seine Südostprovinz und verjagte durch eine "antizionistische" Kampagne 20.000 seiner 30.000 - den Holocaust der Nazis - überlebenden Juden und schürt in einem Land, fast ohne Juden, weiter den Antisemitismus, in der Südslowakei fühlen sich die 500.000 Ungarn - 400.000 wurden 1945 nach Ungarn zwangsumgesiedelt - aIs Bürger zweiter Klasse, Rumänien beseitigte die Autonomie seiner ungarischen Skeklerprovinz, Bulgarien verweigert seiner halben Million Türken türkische SchuIen. Zwar hat die UdSSR ihren nichtrussischen Nationalität zahlreiche Rechte eingeräumt, doch yermissen Sowjetdeutsche und Juden wesentliche Möglichkeiten der Wahrnehmung kultureller und sprachlicher Autonomie, fordern Krimtataren, Meschier und wiederum Sowjetdeutsche die Wiedererrichtung ihrer von StaIin liquidierten Heimatrepubliken und die Rückkehr ihrer Völker dorthin.

Wenn schon in den hochindustrialisierten Staaten der Ersten und Zweiten Welt wenig Bereitschaft besteht; legitime Rechte ethnischer Minoritäten anzuerkennen, nimmt es nicht wunder, daß in den sozioökonomisch labileren Staaten der Dritten Welt solche Konflikte - nicht zuletzt dank Waffenlierungen aus Ost und West - zu Eruptionen führen können.

In den meisten schwarzafrikanischen, asiatischen und in vielen lateinamerikanischen Staaten sind mehrere ethnische Gruppen ansässig. In vielen dieser Länder konnten gravierende Nationalitätenkonflikte vermieden werden, so gibt es in der Mehrzahl der schwarzafrikanischen Staaten so viele ethnische Gruppen, daß eine einzige kaum die anderen, zu dominieren vermag. In den Ländern Lateinamerikas hat der Kampf der Indios um soziale und ökonomische Gleichberechtigung erst begonnen, er geht meist Hand in Hand mit dem Kampf um die Erhaltung der jahrhundertelang unterdrückten Nationalkultur. Militärisch scheinbar geIöste Konflikte - die Niederwerfung der Biafraner oder der irakischen Kurden sind nur aufgeschoben und werden in anderer Form wiederkehren. Der Aufstand der Vierten Welt wirft für die Staaten der Dritten WeIt dabei zwei wesentliche Fragen auf:

1) Die Frage nach der Legitimität der bestehenden, von Kolonialmächten gezogenen Grenzen:
Hier schneidet sich (z.B. deutlich in Biafra) das völkerrechtliche Prinzip der Kontinuität der Legitimität - ein Staat ist legitim, weil er z.B. auf einer britischen Kolonie aufbaut - mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Julius Nyerere hat in seiner Rede zur Anerkennung Biafras darauf hingewiesen, dass es Fälle geben kann, wo die von einer betroffenen Bevölkerung um jeden Preis gewünschte Veränderung der Kolonialgrenzen vernünftiger sein kann als deren Erhaltung um den Preis der Vernichtung der Betroffenen. Eritrea wäre eine solche Lösung heute zu wünschen. Andererseits wäre gerade in Schwarzafrika die Überwindung der kolonialen Grenze auch durch Zusammenschlüsse kleiner Staaten denkbar.

2) Die Frage nach dem Sinn von auf "Nationen" gegründeten Staaten:
Während in Europa herrschende nationale Mehrheiten das Problem der Minderheiten meist für so `geringfügig´ erachten, dass sie ihr nationalen Selbstbewusstsein nicht in Frage stellen, erweist sich in vieIen anderen Teilen der Welt immer deutlicher die Unmöglichkeit, "homogene" Nationen zu schaffen. Der Versuch der nationalen Homogenisierung nach europäischem Vorbild provoziert den "Tribalismus" - die Beschränkung der Loyalität auf die ethnische Gruppe statt auf die "Nation" - , der von westlichen Experten und afrikanischen Eliten als besondere Bedrohung der jungen Staaten dargestellt wird. Es bleibt ab zuwarten, ob nicht überlieferte Bindungen an Dorfgemeinschaft und die ethnische Gruppe und die Akzeptierung der kulturellen und ethnischen Vielfalt eher für den sozialen Wandel in Anspruch genommen werden können als in Europa konzipierte Modelle des NationaIstaates.

Menschenrechtsorganisationen für Minderheiten
Der Kampf unterdrückter, unterprivilegierter und verfolgter ethnischer Minderheiten, der Kampf der Vierten Welt um Bewahrung und Entwicklung ihrer Identität,. um Erhaltung oder Wiedererlangung ihrer Landbasis, um Selbstverwaltung oder nationale Unabhängigkeit ist Teil des weltweiten Emanzipationsstrebens der Völker. Da Bestrebungen von Bürgerrechts- und Befreiungsbewegungen nationaler Minderheiten immer wieder vitale ökonomische und strategische Interessen nicht nur westlicher Industrieländer und multinationaler Konzerne, sondern auch der Staaten der Dritten WeIt und der Länder des sozialistischen Lagers berühren, finden sich von Fall zu Fall wechselnde, aber in der Regel mächtige Allianzen gegen die zusammen.

Unter Berufung auf das Nichteinmischungsprinzip werden die Minderheitenkonflikte zu inneren Angelegenheiten betroffener Staaten erklärt, und es wird versucht, jede internationale Solidarität abzublocken, Emanzipationsbewegungen nationaler Minderheiten zu liquidieren und Verbrechen des Ethnocids und Genocids zu verschleiern. Diesem weltweiten Verbundsystem der Repression, "der Weltherrschschaft der Gangster" - wie Sartre es nannte - versuchten kleine Aktionskomitees entgegenzuwirken, die sich jeweils spontan in verschiedenen westlichen Ländern bildeten und die sich meist schnell und pragmatisch zu internationaler Zusammenarbeit zusammenfanden.

Häufig erhoben auch einzelne Persönlichkeiten der demokratischen und humanistischen Linken wie Sartre in Frankreich, Gollwitzer in Deutschland, Sacharow in der Sowjetunion oder Senator McCarthy in den USA ihre Stimme, um gegen Verfolgungen von Minderheiten zu protestieren. Doch kurzlebige Aktionskomitees reichen nicht aus, um der "Weltherrschaft der Gangster" zu begegnen. Es müssen kontinuierlich arbeitende Menschenrechtsorganisationen für Minderheiten geschaffen werden, die planmäßig und überlegt als Anwälte verfolgter ethnischer Gruppen auftreten, die die Forderungen von deren Repräsentanten bekanntmachen, eine sensationsorientierte Presse immer wieder motivieren, durch eigene Publikationsorgane Multiplikatoren und Engagierte ansprechen, die Gewerkschaften, Parteien, Kirchen und Parlamentarier mobilisieren und humanitäre, edukative und Entwicklungshilfe jnitieren.

Im angelsächsischen Bereich wären zwei solcher Initiativen zu benennen: die "Minority Rights Group" in London beschränkt ihr Wirken bisher auf den Informationssektor, hat aber mit ihren Reporten die Aufmerksamkeit der angelsächsischen Presse gefunden. "Survival International" konzentriert seine Arbeit auf Stammesvölker und unterstützt in enger Zusammenarbeit mit deren Räten und Organisationen Projekte auf kooperativer Basis, die aus den Traditionen kollektiv bestimmter Gesellschaften herrühren, ihnen neue ökonomische Grundlagen schaffen sollen. Die "Gesellschaft für bedrohte Völker", einst deutscher Zweig von "Survival International", gibt in ihrer Reihe "pogrom" Materialien zur Situation von Minderheiten heraus und versucht in Fällen akuter Verfolgung tätig zu werden. Wie die Arbeit von "amnesty international" für politische Gefangene deren Existenz nicht ganz aus der Welt schaffen kann, werden die neuen Minderheitenschutzorganisationen Verfolgung ethnischer Gruppen nicht beseitigen können.

Das Aufbegehren verfolgter Minderheiten in vielen Teilen der Welt könnte nicht nur verstärkte Repression zur Folge haben, sondern auch zur Entwicklung konstruktiver multinationaler Modelle führen. Autonomieversprechen in jüngster Vergangenheit - wie im Irak an die Kurden, wie im Sudan an die Südsudanesen und in Indien an die Nagas - brachten eher neue Formen der Unterdrückung als Alternativen für die Zukunft. Doch schon ihr Vorhandensein offenbart das Eingeständnis, daß Mittel der Unterdrückung Konflikte nicht dauerhaft lösen können.

Nach Gandhi wären Gesellschaften danach zu beurteilen, wie sie ihre Minderheiten behandeln. Vor diesem Urteil würden bis heute nur wenige Staaten bestehen.

Tilman Zülch. Von denen keiner spricht - Unterdrückte Minderheiten - von der Friedenspolitik vergessen (z.B. Kurden, Basken, Chicanos, Indios, Meschier u.a) Rororo-aktuell - 1975.


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch1.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch-voll.html | www.gfbv.it/3dossier/war/gutman-rieff.html | www.gfbv.it/3dossier/rom-dt.html

* www: http://www.genocidewatch.org/ | http://www.endgenocide.org/ | http://www.geocities.com/Paris/5121/holocaust.htm | http://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/shows/evil/ | http://www.errc.org/ | http://www.romnews.com/

Letzte Aktual.: 11.12.2003 | Copyright | Suchmaschine | URL: www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch2.html | XHTML 1.0 / CSS | WEBdesign, Info: M. di Vieste
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