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Nigeria

Zum Hintergrund der religiösen und ethnischen Konflikte

Bozen, Göttingen, 21. September 2001

Kirchen und Moscheen wurden bis auf die Grundmauern niedergebrannt, Kinder und Erwachsene mit Macheten abgeschlachtet, als am 7. September 2001 in der Stadt Jos im Zentrum Nigerias ethnisch-religiöse Konflikte ausbrachen. Eine "Orgie der Gewalt" habe die bislang friedliche Stadt erfasst, berichteten Augenzeugen. 165 Leichen wurden von Mitarbeitern des Roten Kreuzes geborgen, bis zu 500 Menschen sollen bei den Kämpfen zu Tode gekommen sein, mehr als 1000 wurden verletzt.

Trotz zahlreicher Appelle religiöser Führer, Politiker und traditionelle Vertreter der Völker Nigerias brechen in dem 123 Millionen Einwohner-Staat immer wieder Kämpfe zwischen Christen und Muslimen oder verschiedenen Nationalitäten aus. Gewaltakte werden sowohl von Christen als auch Muslimen verübt. Seit dem Ende der Militärdiktatur vor zwei Jahren starben mehr als 6.000 Menschen bei religiösen und ethnischen Konflikten. Mehr als 230.000 Menschen wurden zu Flüchtlingen, die innerhalb Nigerias Zuflucht vor Übergriffen gesucht haben.

Eine ethnische Karte NigeriasIm Juli 2001 wurden 1000 Menschen bei Kämpfen zwischen Muslimen und Christen in dem im Norden gelegenen Bundesstaat Bauchi getötet. Die Auseinandersetzungen waren durch einen Streit über die Einführung des traditionellen muslimischen Scharia-Rechts ausgelöst worden. Die umstrittene Scharia stand auch im Zentrum von Kämpfen in dem im Norden gelegenen Bundesstaat Kaduna, bei denen 2000 Menschen im Februar und Mai 2000 getötet wurden. Zur Vergeltung wurden daraufhin Nordnigerianer angegriffen, die im Südosten Nigerias leben. 450 Menschen starben bei diesen Übergriffen.

Ungeachtet der Proteste vieler christlicher Kirchen haben inzwischen zwölf Bundesstaaten im Norden Nigerias die Scharia eingeführt. Offiziell gilt sie in den mehrheitlich von muslimischen Haussa bewohnten Gebieten nur für die muslimische Bevölkerung. Doch muslimische Milizen halten sich nicht an diese Einschränkung und fordern, dass die Scharia für alle Bürger gelten müsse. Mit Übergriffen auf Hotels und deren Lieferanten versuchen sie gewaltsam den Alkoholausschank zu unterbinden. Im Staat Kano peitschten muslimische Milizionäre im Dezember 2000 einen christlichen Händler aus, bei dem sie eine Flasche Schnaps gefunden hatten. Die christliche Minderheit fürchtet nicht nur neue Gewaltakte, sondern sie fühlt sich auch durch die Einführung der Scharia zum Bürger zweiter Klasse herabgesetzt.

Drakonische Strafen des neuen Rechtssystems erregten Aufsehen auch über die Landesgrenzen hinaus. Erstmals wurde am 12. September 2001 ein Nigerianer im Bundesstaat Kebbi wegen Sodomie eines Kindes zum Tode durch Steinigung verurteilt. Im August hatte ein Gericht im Staat Zamfara die Auspeitschung einer Frau wegen Ehebruchs angeordnet. Trotz weltweiter Kritik wurde im gleichen Bundesstaat im September 2000 eine 17-Jährige wegen vorehelichen Geschlechtsverkehrs zu 180 Peitschenhieben verurteilt. Die junge Frau war schwanger geworden, nachdem sie von ihrem Vater zum Geschlechtsverkehr mit drei Männern gezwungen worden war, denen er Geld schuldete. Die nigerianische Frauenrechtlerin Ayesha Imam warf der Provinzregierung daraufhin "Missbrauch der Religion" und "staatlicher Macht" vor. Die deutliche Botschaft der Auspeitschung sei, dass Männer nach Vergewaltigungen von Frauen straflos blieben, wenn sie nur dafür sorgten, dass es keine Zeugen gebe.

Kritik kommt auch von den christlichen Kirchen. Der Erzbischof von Abuja, John Onaiyekan, hält die Scharia für verfassungswidrig. Die Einführung der Scharia verstoße gegen Abschnitt 10 der Verfassung Nigerias von 1999 und gegen den säkularen Status des Landes. Muslime und Christen stellten jeweils die Hälfte der Bevölkerung. Die Verfassung verbiete es, dass Bundesstaaten eine Religion zum Schaden einer anderen bevorzugen. Nigerianische Menschenrechtler teilen diese Einschätzung, doch alle Versuche scheiterten, per Gerichtsbeschluss die Annahme des umstrittenen muslimischen Rechts zu verhindern.

Kritiker des Staatspräsidenten Olusegun Obasanjo werfen dem Staatsoberhaupt vor, nicht entschieden genug Widerstand gegen die Einführung der Scharia zu leisten. Der überzeugte Christ, der 1999 nach 20 Jahren Militärherrschaft als demokratisch gewählter Präsident die Macht übernahm, appelliert immer wieder für Frieden und ein Ende der religiös-ethnischen Unruhen. Doch der Einführung der Scharia widersetzte sich Obasanjo nicht vehement in aller Öffentlichkeit. Denn er weiß, dass sein Verhalten in der Scharia-Frage auch über die Zukunft seiner Präsidentschaft entscheiden kann. Die Muslime befürworten mehrheitlich die Hinwendung zum traditionellen muslimischen Recht. Schon gibt es erste Aufrufe von ihnen, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen nur für einen muslimischen Kandidaten zu stimmen.

Neben der Scharia trägt auch die ethnische Struktur des Vielvölkerstaates Nigeria zur Eskalation der Gewalt bei. Die in 36 Bundesstaten lebenden 123 Millionen Nigerianer gehören mehr als 300 Völkern und Nationalitäten an und beherrschen rund 500 Sprachen. Drei große ethnische Gruppen bestimmen seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1960 weitgehend das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben:

- Die christlichen Yoruba im Südwesten, aus deren Reihen auch Präsident Obasanjo stammt;
- die christlichen Ibo im Südosten, deren Versuch einer Loslösung aus dem nigerianischen Staatsverband im Völkermord in Biafra Ende der 60-er Jahre tragisch endete;
- die muslimischen Haussa-Fulani, die überwiegend im Norden sowie im Zentrum des Landes leben.

Daneben gibt es im Nigerdelta und im Zentrum Nigerias (dem sogenannten Middle Belt) zahlreiche Minderheiten, die sich als benachteiligt empfinden. Seit Jahren beklagen sie, dass sie sowohl im wirtschaftlichen als auch im politischen Leben von den dominierenden drei großen Bevölkerungsgruppen diskriminiert werden. Viele der ethnisch-religiösen Konflikte sind auf die Benachteiligung dieser Minderheiten zurückzuführen. Oft überlagern sich bei den Auseinandersetzungen aber auch ethnische und religiöse Fragen. Die aktuelle Diskussion um die Scharia schürt Konflikte, doch dahinter liegen zum Teil seit Jahrzehnten schwelende Spannungen zwischen Bevölkerungsgruppen. Auch wirtschaftliche Fragen spielen eine enorme Rolle bei den bewaffneten Auseinandersetzungen.

So trägt die ständig steigende Arbeitslosigkeit und die katastrophale wirtschaftliche Lage insbesondere unter den Jugendlichen zu einer Radikalisierung bei. Korruption, Vetternwirtschaft und politische Machtkämpfe verschärfen die ohnehin bestehenden Konflikte. So nutzen einige Gouverneure von Bundesstaaten im Norden des Landes ganz gezielt die Scharia-Frage, um ihren politischen Einfluss zu vergrößern und die Chancen auf eine Wiederwahl zu verbessern. Es ist ein Spiel mit dem Feuer angesichts der ethnisch-religiösen Spannungen. Sollten die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Nigerias zunehmen, ist eine Eskalation der Gewalt zu befürchten.


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/2c-stampa/04-1/040507de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/031121de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/02-3/021029ade.html | www.gfbv.it/2c-stampa/02-3/020903de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/02-2/news0207de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/02-2/020819de.html

* www: www.handsoffcain.org | www.amnistiapornigeria.org/ | www.mertonai.org/amina/

Letzte Aktual.: 7.5.2004 | Copyright | Suchmaschine | URL: www.gfbv.it/3dossier/africa/nigeria-de.html | XHTML 1.0 / CSS | WEBdesign, Info: M. di Vieste
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