Logo


In: Home > DOSSIER > Bosnien: Heilung braucht Erinnerung

Sprachen: DEU


Bosnien

Heilung braucht Erinnerung

Von Monika Hauser

Bozen, Göttingen, 28. Februar 2014

Medica Zenica finanziert in Bosnien Ausbildungslehrgänge, damit Frauen ihren Lebensunterhalt verdienen können. Foto: © Cornelia Suhan/medica mondiale. Medica Zenica finanziert in Bosnien Ausbildungslehrgänge, damit Frauen ihren Lebensunterhalt verdienen können. Foto: © Cornelia Suhan/medica mondiale.

Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Schätzungen zufolge mehrere Millionen Frauen vergewaltigt, 40 Prozent von ihnen mehrfach. Allein in den letzten Kriegstagen erlebten etwa 1,9 Millionen Frauen sexualisierte Gewalt durch die Alliierten. Auf Seiten des NS-Regimes diente Vergewaltigung als Mittel der Terrorisierung. Eine tiefergehende Diskussion über das Geschehene und die gravierenden langfristigen seelischen und körperlichen Folgen im weiteren Leben der Frauen hat nicht stattgefunden. In jedem Fall zahlten sie alle einen hohen Preis: Sie wurden auf ihre Körper reduziert und benutzt. Und wenn sie überlebt hatten, folgten in der Nachkriegsgesellschaft soziale Ausgrenzung und Schuldzuweisung, die es ihnen nahezu unmöglich machten, über ihre schmerzhaften Erfahrungen zu sprechen. Was bedeutet es für jede Einzelne und für das Kollektiv, dass Frauen "darüber" nie sprechen konnten, die traumatischen Auswirkungen aber bis heute in die deutsche Gesellschaft hineinwirken?

Immer wieder schreiben uns alte Frauen von ihren traumatischen Erfahrungen - und dass unsere Arbeit sie ermutigt habe, jetzt doch noch davon zu berichten, oft zum ersten Mal. Es darf nicht sein, dass nur Frauenorganisationen ein Interesse zeigen an der Wahrheit dieser Frauen. Wir können auch heute noch ein Stück Gerechtigkeit herstellen. Frauen, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg von sexualisierter Gewalt betroffen waren, brauchen Raum für ihre Erinnerungen. Ihr Leid muss ebenso anerkannt werden wie ihre ungeheure Kraftanstrengung, die zum Überleben, zum Aufziehen der Kinder sowie zum Wiederaufbau nötig war. Die Erinnerungskultur nach dem Krieg war in beiden deutschen Staaten mit zahllosen Tabuisierungen und Entlastungen verbunden. Es ist höchste Zeit, dass die Kriegsvergewaltigungen an allen weiblichen Opfergruppen einen Gedenkort erhalten - denn Heilung braucht auch Erinnerung.

Massenhafte Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen und sexualisierte Gewalt waren und sind ein weltweites Phänomen in vergangenen und gegenwärtigen Kriegen; nicht nur in anderen Teilen der Welt, sondern auch in Europa. Nach wie vor werden Vergewaltigungen im Krieg als effektives Mittel eingesetzt, um den Gegner zu demütigen und emotional zu besiegen. Ihre hohe symbolische Bedeutung wirkt besonders stark in patriarchalen Gesellschaften: Vielfach verstößt die Familie die Frau oder der Ehemann verlässt sie mit der Begründung, sie hätte Schande über ihre Familie gebracht. Aus Scham, Angst, aber auch zum Schutz ihrer Angehörigen sprechen die Überlebenden nur sehr selten über das, was ihnen widerfahren ist.

Monika Hauser gründete 1993 das Frauentherapiezentrum Medica Zenica in Bosnien und 1995 die Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale. Foto: © Cornelia Suhan/medica mondiale. Monika Hauser gründete 1993 das Frauentherapiezentrum Medica Zenica in Bosnien und 1995 die Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale. Foto: © Cornelia Suhan/medica mondiale.

Vergewaltigungen sind unter keinen Umständen hinnehmbar. Sie stellen keinen "Kollateralschaden" im Krieg dar, sondern eine schwere Menschenrechtsverletzung, die geahndet werden muss. Nicht die Frauen, sondern die Täter verlieren ihre Ehre. 2008 verurteilte die Resolution 1820 des UN-Sicherheitsrats erstmals Vergewaltigung als Kriegstaktik sowie als Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit. Im gleichen Jahr rückt der Alternative Nobelpreis für Medica Mondiale die Arbeit zur Unterstützung kriegsvergewaltigter Frauen in den Fokus der breiten Öffentlichkeit. Trotzdem hat bisher keine Bundesregierung das Thema der Kriegsvergewaltigungen gewürdigt, aufgearbeitet oder in ihre heutige Außen- und Sicherheitspolitik integriert. Die noch wenigen deutschen Überlebenden erhielten weder finanzielle Unterstützung noch eine Entschädigung.

Heute sind diese Frauen 80 bis 100 Jahre alt. Jene, die noch leben, sind ob ihres Alters mit Situationen konfrontiert, die Erinnerungen an erlebte Gewalt wachrufen können. Bei der Körperpflege und bei Krankheiten sind sie verstärkt auf die Hilfe anderer angewiesen. Die damit verbundenen Gefühle von Hilflosigkeit und Kontrollverlust werden unweigerlich mit vergangenen Erfahrungen verbunden. Situationen wie das Wechseln der Windeln greifen in die Intimsphäre der Frauen ein und können bei unsensibler Behandlung Gewalterfahrungen wieder aufleben lassen. Aus diesem Grund ist eine bedarfsgerechte Unterstützung durch Biografiearbeit und traumasensible Pflege und Beratung besonders wichtig - dafür braucht es dringend Qualifizierung von medizinischem und Pflegepersonal. Auch für weitere Generationen kann Traumatisierung und die häufig damit einhergehende Verdrängung von Gewalterlebnissen schwerwiegende Folgen haben: Durch transgenerationelle Traumatisierung werden bestimmte Verhaltensweisen unbewusst weitergegeben. Die Folge können in der betroffenen sowie in folgenden Generationen chronische Krankheiten, Panikattacken, Suizidversuche, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch sowie Probleme bei sozialen Bindungen und Sexualität sein - ohne dass dies später noch zugeordnet werden kann.

Keine Rede einer Kanzlerin oder eines Bundespräsidenten galt bis heute - fast 70 Jahre nach Kriegsende - den kriegsvergewaltigten Frauen. Niemand widmete ihnen ein Mahnmal, niemand machte Anstrengungen in Richtung Aufarbeitung und Entschädigung. Diese Ignoranz schmerzt die Betroffenen zutiefst. Es ist längst überfällig, diesen Frauen und ihren Erlebnissen in unserer Erinnerung einen angemessenen Raum zu geben. Frauen weltweit muss Gerechtigkeit widerfahren, indem ihr Leid anerkannt und ihre Not gelindert wird: durch direkte fachliche Unterstützung und auch durch Anerkennung und Aufarbeitung, durch Entschädigung und durch einen Gedenkort, an dem wir alle uns erinnern können. Die Gesellschaft muss Verantwortung übernehmen und über die Geschehnisse sprechen. Nur mit der Bereitschaft zur Bearbeitung der tabuisierten Traumata von Schuld, Scham und Leid kann es zu einer wirklichen Befriedung kommen. Nur so können wir zur Heilung beitragen und Veränderung bewirken.

[Zur Autorin]
Monika Hauser ist Gründerin von der Organisation Medica Mondiale, die sich für traumatisierte Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten einsetzt. Neben gynäkologischer Versorgung, psychosozialer und rechtlicher Unterstützung bietet Medica Mondiale Programme zur Existenzsicherung und leistet politische Menschenrechtsarbeit.

Aus pogrom-bedrohte Völker 277 (3/2013)