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Deutschland - Dänemark / Minderheiten

1955 - 2005 - Bonn-Kopenhager Erklärung

Bozen, 29. März 2005

Offener Brief an den Bund deutscher Nordschleswiger, an den Südschleswigschen Wählerverband

Liebe Freunde im Norden,
50 Jahre danach brauchen die Sprachminderheiten im deutsch-dänischen "Grenzgebiet" weiterhin politischen Spielraum und politische Förderung. In Deutschland werden die Sprachminderheiten im besten Fall kaum zur Kenntnis genommen. Warum auch. Deutsche Bürger sorbischer, dänischer, friesischer oder Sinto-Muttersprache sind vielfach gehorsame Staatsbürger. Auch dann, wenn der Staat seinen Verpflichtungen gegenüber diesen Minderheiten nicht nachkommt, auch dann, wenn der Staat auf Kosten dieser Minderheiten spart. Die Politik braucht keine Rücksicht zu nehmen, weil die Angehörigen der sogenannten alteingesessenen Sprachminderheiten als Wähler kaum ins Gewicht fallen. Sie sind eine zu vergessende Größe.

Zu einer unangenehmen Größe wurde bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein der sozialdemokratisch ausgerichtete Sydslesvigsk Forening, der Südschleswigsche Wählerverband, die Partei der dänischen und friesischen Sprachgruppe. Mit seinen zwei Mandataren im Landtag wurde nach dem rot-grünen Wahlverlust der SSW zum unerwarteten Mehrheitsbeschaffer für die Verlierer. Da entdeckten Politik und Medien die Minderheiten in Schleswig-Holstein, die totale Überraschung.

Politiker und Journalisten waren überrascht, auch deshalb, weil der SSW klar und deutlich Forderungen formulierte, der abgewählten rot-grünen Landesregierung ein Weiterleben zusicherte, ungeniert, aber kalkulierend sich in die Landespolitik einmischte. Ein Frevel, stellten die Sieger von der CDU fest. Statt im Reservat zu bleiben, in Trachten dänische Volkslieder zu singen, meldete der SSW Ansprüche an. Unerlaubterweise, tönte die CDU und verwies darauf, dass der SSW von der üblichen Fünfprozenthürde befreit ist. Deshalb, so der parlamentarische Geschäftsführer der CDU Norbert Röttgen und der hessische Ministerpräsident Roland Koch, sind die beiden SSW-Mandatare nicht vollwertig, nur halb legitimiert, gar illegal und demokratiegefährdend, wenn der SSW als "Zünglein an der Waage", als "Königsmacher" agiert.

Diese Botschaft wurde verstanden. Der SSW wurde mit übler Post, per Brief, Fax und Mail, überhäuft und auch Todesdrohungen folgten. Die um ihren Wahlsieg gebrachte CDU verpackte ihre Drohung in eine Empfehlung, auch für den SSW soll wieder die Fünfprozenthürde gelten. Außer, der SSW bleibt in seinem "dänischen" Reservat und hält sich raus aus der großen Politik.

Ein beigelegt geglaubter Nationalitätenstreit lebt wieder auf. Vor einem Jahrhundert war das nördliche Schleswig-Holstein und das südliche dänische Jütland Schauplatz ethnischer Auseinandersetzungen. Mit der Volksabstimmung 1920 wurde die heutige Grenze gezogen. Die Folge, Dänemark kam zu einer deutschen Minderheit, die Weimarer Republik zu einer dänischen Sprachgruppe. Harmonisch war das Verhältnis selten, mit der Machtergreifung der Nazis erfolgte die Vergiftung. Den Einmarsch der NS-Wehrmacht in Dänemark begrüßte die deutsche Minderheit - wie viele andere deutschsprachige Minderheiten auch. Mit nachhaltiger Wirkung.

1948 drängten die Briten auf eine Befriedung in der deutsch-dänischen Grenzregion. In der Kieler Erklärung 1949 bekannte sich Schleswig-Holstein zu seiner Minderheit. Das schlechte Gewissen, verursacht durch die braune Vergangenheit, ermöglichte eine Art Wiedergutmachung. In Kiel ging die CDU-Landesregierung aber davon aus, daß die dänische Regierung der deutschen Minderheit ähnliches zusichern würde. Die Dänen rächten sich aber für den deutschen Applaus am Nazi-Einmarsch. Das Grundvermögen der Nordschleswiger blieb konfisziert, Abschlüsse der deutschen Schulen wurden nicht anerkannt. CDU-Ministerpäsident Friedrich-Wilhelm Lübke (Juni 1951 - Oktober 1954) revanchierte sich dafür und hob die bis dahin geltende Fünf-Prozent-Klausel auf 7,5 Prozent an, um den SSW aus dem Landtag zu drängen. Der SSW klagte dagegen erfolgreich vor dem Bundesverfassungsgericht. Danach galt in Schleswig-Holstein wieder für alle Parteien die Fünf-Prozent-Hürde.

Doch erst im Vorfeld des NATO-Beitritts der Bundesrepublik klärte sich das Verhältnis zu Dänemark. Am 29. März 1955 wurden die Bonn-Kopenhagener-Erklärungen verkündet. Die innerstaatlichen Erklärungen leiteten eine Politik des Gleichgewichts zwischen Mehrheit und Minderheit auf beiden Seiten der Grenze ein. Einengungen im Schulrecht in Nordschleswig und des Wahlrechts in Schleswig-Holstein wurden aufgehoben. Seit den Bonn-Kopenhagener-Erklärungen ist der SSW als politischer Vertreter der dänischen Minderheit nicht mehr an die Fünf-Prozent-Klausel gebunden. Die Erklärungen beseitigten die Hindernisse, förderten das friedliche Zusammenleben in der Grenzregion mit Dänemark. Sie gilt auch deshalb als Modellfall, ein Grund, das Modell gemeinsam zu feiern. 1989 schrieb sich das Bundesland eine neue Verfassung. Darin bekennt sich Schleswig-Holstein mit klaren Worten zu Sonderrechten für Minderheiten.

Der SSW mag zwar von der strikten Klausel befreit sein, er muß aber eine Stimmenzahl erringen, die für ein Landtagsmandat notwendig ist. Das entspricht de facto einer Fünf-Prozent-Klausel für den dünn besiedelten Landesteil Schleswig. Seit der Landtagswahl vor fünf Jahren ist das Einstimmenwahlrecht vor allem auf Betreiben der Grünen mit Unterstützung der FDP durch ein Zweistimmenwahlrecht abgelöst worden. Obwohl sich der SSW nur nördlich der Linie Eider-Nord-Ostseekanal der Wahl stellt, ist er systembedingt nun über die Landesliste auch in Holstein wählbar. Wahlkampf betrieb der SSW in Holstein nicht. Die Wählbarkeit der SSW-Liste in Holstein stößt jedoch auf Protest der CDU. Aufgrund gutachterlicher Stellungnahmen von 2001, die die Sonderregelung des SSW auch im neuen Zweistimmensystem für rechtens halten, ist nicht zu erwarten, daß die seit 1955 geltende Ausnahme für die Vertreter der dänischen Minderheit in Frage gestellt wird. Auch das Verfassungsgericht bestätigte die Befreiung des SSW von der Klausel.

Trotzdem zündelt die CDU, kritisiert Minderheitenrechte plötzlich als demokratisch bedenklich Sonderrechte und Privilegien, die sie für die Reste der deutschen Minderheiten in Osteuropa zurecht fordert. Der Konflikt um den SSW klärt Positionen.

Auch bisher nicht zu rüttelnde und zu hinterfragende. So meldete sich das Südtiroler Volksgruppen-Institut mit einer SSW-kritischen Presseerklärung zu Wort. Eine überraschende Stellungnahme von Institutsleiter Christoph Pan, der in seiner Zeit als Fuev-Vorsitzender eine phantasievolle Minderheitenpolitik initierte. Pan warnte den SSW, "die ihm aus Gründen des Minderheitenschutzes gewährte Ausnahmeregelungen ... für allgemeinpolitische Zwecke zu instrumentalisieren". Mit seiner Unterstützung für die SPD-Spitzenfrau Heidi Simonis fügt der SSW laut Pan dem Anliegen des Minderheitenschutzes unermesslichen Schaden zu. Pan geht davon aus, dass künftig "viele Volksgruppen es sehr viel schwerer haben werden, die Befreiung von Prozentklauseln zu erreichen". Pan empfahl deshalb dem SSW eine Beschränkung auf minderheitenspezifische Ziele. Sonst soll es keine Ausnahme von der Sperrklausel geben. Instituts-Mitarbeiterin Beate Pfeil verteidigte die Stellungnahme als ein Vorwärtspreschen, als einen Versuch, vom SSW, seinem Anliegen und von den Minderheiten überhaupt Schaden abzuwenden.

Ein solches Schreiben mit den präzisen rechtlichen Überlegungen an den SSW wäre nachvollziehbar gewesen, nicht aber eine Presseerklärung, die sich mit der CDU-Linie deckt. Instituts-Leiter Pan lieferte mit seinen Bedenken auch der FAZ eine argumentative Steilvorlage gegen den SSW.

Die FAZ schoss sich auf den SSW ein, die eine "Partei Dänemarks" sei, die einen "Kulturkampf" um skandinavische Schulsysteme und skandinavische Haushaltsmodelle führt. Der SSW mit seiner "allgemeinpolitischen" Linie der Tolerierung einer rot-grünen Minderheitenregierung will laut FAZ in ganz Deutschland skandinavische Modelle implementieren und das mittels Mandaten, die nur durch ein "Wählerstimmenprivileg" gedeckt sind. CDU und FAZ, um eine Wiederaufnahme des Nationalitätenkampfes in Schleswig-Holstein "bemüht". Konservative Politik und Publizistik sehen gar das Zusammenleben bedroht, wenn die dänische Minderheit allgemein politisch aktiv wird. Die FAZ wiederholt damit eine Kampagne mit umgekehrten Vorzeichen, konservative dänische Zeitungen (www.gfbv.it/2c-stampa/1-00/20a-3-dt.html) pöbelten vor fünf Jahren auf rüde Art und Weise die deutsche Minderheit an.

Die FAZ reichte ihrem Kommentar zu allem Überfluss eine üble Karikatur nach. Hitlers Erben, Neo-Nazis, die ihre Partei Reichswählerverband nennen, für die bei den kommenden Bundestageswahlen die Fünfprozenthürde nicht gilt. Antidänische Ressentiments, geschürt auch von der FAZ, würden sichtbar werden, weiß auch die FAZ, wenn es dänische Synagogen geben. Hat die FAZ die Fassung verloren oder nur ihre Maske abgelegt? Die liberale Wochenzeitung "Die Zeit" verspottete zwar die weit verbreitete antidänische Hetze, verpackte ihre Kritik gekonnt ironisch, merkte aber gar nicht, dass ihre Ironie den SSW und die dänische Sprachgruppe erschlug.

Die Grünen, die SPD, der Minderheitenbeauftragte der Bundesregierung, die Kirchen, sie alle stellten sich vor den SSW. Eine Solidarität, auf die die Sorben immer noch warten, ebenso die Sinti, die einen neuen Antiziganismus beklagen. Solidarisch erklärten sich auch die Fuev-Vorsitzende Martha Stocker, Landtagsabgeordnete der Südtiroler Volkspartei in Bozen und das Fuev-Präsidium. Tenor, auch Minderheitenparteien sollen Regierungsbildungen ermöglichen. "Denn sind einmal Vertretungen der nationalen Minderheiten in einem Parlament gewählt, aufgrund welcher Bestimmungen auch immer, so dürfen diese nicht zur politischen Neutralität verurteilt werden und damit sich zu Parlamentariern zweiter Kategorie degradieren lassen. Wenn in diesem Zusammenhang von undemokratischen Manipulationen die Rede ist, ist dies eine Verkennung der Menschen- und Minderheitenrechte". Die FUEV hofft, dass solche Entgleisungen nicht als Zeichen zum Abbau der politischen Partizipationsformen der nationalen Minderheiten zu werten seien. Letzteres wäre ein verhängnisvolles Signal.

Das unerträgliche Kesseltreiben gegen den SSW heute hat einen Vorläufer. Während der Barschel-Affäre 1987 wurde der SSW-Abgeordnete Karl-Otto Meyer - wie seine Nachfolger heute - bundesweit bekannt. Seine Stimme gab damals den Ausschlag für Neuwahlen. Darin sahen Unions-Politiker in Kiel, Bonn und München einen glatten Missbrauch von Minderheitenrechten.

Die SPD bedankte sich 1989 beim SSW mit einer Neufassung der Landesverfassung für Schleswig-Holstein und mit dem Bekenntnis, dass Minderheiten Sonderrechte benötigen und auch beanspruchen können. Wird die Große Koalition diese Landesverfassung kippen? Die Landesverfassung aus dem Jahr 1989 soll doch auch Vorbild sein für Dänemark, das sich in Fragen der Minderheitenförderung - besonders seit Amtsantritt von "Mitte-Rechts" zurückhaltend gibt.

Beide Minderheiten, die dänische in Schleswig-Holstein, die deutsche in Sønderjylland-Schleswig, sind nationale Minderheiten, die auf der Grundlage eines freien Bekenntnisses existieren, sich aber kaum von der Mehrheitsbevölkerung unterscheiden. Sie werden von den Mutterländern ideell und finanziell in besonderem Maße gefördert, aber auch die beiden Staaten unterstützen jeweils die Minderheit. Sprachlich gesehen ist die deutsche Volksgruppe heute zweisprachig, doch sprechen zwei Drittel als Haussprache sonderjydsk (plattdänisch). Deutsch ist die Sprache des Gottesdienstes, der Feste und der Vereine. Die überwiegende Haussprache bei den dänischen Südschleswigern ist vielfach plattdeutsch und hochdeutsch. Die sprachlichen Gepflogenheiten haben somit nicht unbedingt mit der "ethnischen" Gesinnung zu tun.

Die noch nicht gelösten Probleme beider Sprachgruppen ähneln sich sehr: Schülerbeförderung, Anerkennung von Kindergärten, kommunale Zuschüsse für die kulturelle Arbeit und manches mehr. Diese können erst gelöst werden, wenn die Mehrheit einsieht, daß Gleichberechtigung nur dann erreicht werden kann, wenn den Minderheiten gelegentlich eine positive Sonderbehandlung zugestanden wird. Beide Minderheiten sind international organisiert in der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEV), deren Generalsekretär neuerdings ein deutscher Nordschleswiger ist. Das Sekretariat der FUEV hat seit vielen Jahren seinen Sitz beim dänischen Generalsekretariat in Flensburg. An der friedlichen Entwicklung im Grenzland haben beide Minderheiten großen Anteil. Viele Staaten könnten von dem schleswigschen "Modellfall" lernen.

Siehe: "Minderheitenschutz in Deutschland - zur Lage der Friesen, Dänen, Sorben und der deutsche Sinti und Roma" in "pogrom" Nr. 179/1994.


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/2c-stampa/2005/050303de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/2005/050228ade.html | www.gfbv.it/2c-stampa/2005/050225de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/1-00/20-3-dt.html | www.gfbv.it/2c-stampa/1-01/19-2-dt.html | www.gfbv.it/2c-stampa/2-00/19-9-dt.html | www.gfbv.it/2c-stampa/1-00/20a-3-dt.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/schleswig.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/schleswig.html#r5 | www.gfbv.it/3dossier/rai3-99/min-ausgrenz.html | www.gfbv.it/3dossier/vielfalt-dt.html

* www: www.geschichte.schleswig-holstein.de/vonabisz/bonnkopenhagenererklaerung.htm | www.geschichte.schleswig-holstein.de/vonabisz/fuenfprozentklausel.htm | www.geschichte.schleswig-holstein.de/vonabisz/daenischeminderheit.htm | www.faz.net/s/Rub7---.html | www.faz.net/s/Rub6---.html | www.sydslesvigsk-forening.de | www.fuen.org/pages/deutsch/d_5a_2002.html | www.flensborg-avis.de | www.fuerunsimnorden.de/fuin/ | www.nordschleswig.dk

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